»Und?«, fragte Karl
»Hab ihm seinen Kiefer gebrochen und die Nase zertrümmert. Wenn der von der Intensiv runter ist, braucht er erst mal ein neues Passfoto.«
»Au Scheiße«, schloss Karl das Ritual vorzeitig ab, denn die ewige Prahlerei dieser hirnlosen Kampfmaschinen langweilte ihn, obwohl er natürlich wusste, dass die Bewegung Typen wie SS-Rudi unbedingt brauchte.
Karl zeigte auf den Mercedes. »Thielen schon lange da?«
Rudi nickte. »Hat schon zweimal nach dir gefragt. Hat sich schon heiß geredet da drin.«
»Na dann … Halt die Straße sauber!«
Mit diesen Worten ging Karl an Rudi vorbei ins Innere der Kneipe. Die schneidende, laute Stimme von Thielen drang an seine Ohren, und er tauchte ein in einen Dunst aus Schweiß, Rauch und Hass.
Der Versammlungsraum war größer, als man von außen vermuten mochte. Einst war es eine Wirtschaft, in der es traditionelle deutsche Küche und Bier vom Fass gab, aber aufgrund der Lage blieb irgendwann die Kundschaft aus, und die Brauerei, der das Anwesen gehörte, versuchte vergeblich einen Pächter zu finden, der in diesem Stadtteil auch weiterhin auf »deutsche Gemütlichkeit« setzen wollte. Bei einer Anfrage durch einen seriösen Mittelsmann verpachtete man schließlich die komplett renovierungsbedürftige Kneipe zu überhöhten Preisen an die Wilhelm-Tietjen-Stiftung, einer Tarnfirma der rechten Szene, und vereinbarte eine Mindestabnahme an Bierlitern pro Monat. Vor der Tatsache, dass ein rechtsradikaler Verein die Räumlichkeiten bezog, verschlossen die konservativen Kräfte der Brauerei die Augen und freuten sich insgeheim sogar, dass es an diesem »Schandfleck« der Stadt bald Ärger geben würde.
Man hatte sich sogar schon eine PR-Strategie zurechtgelegt und wollte sich im Notfall als »vorsätzlich getäuscht« aus der Affäre ziehen.
Aber seit Übergabe der Immobilie vor mehr als zwei Jahren hatte es keine lokale Zeitung gewagt, diesen Tatbestand zu erwähnen. Es war eben die größte Brauerei der ganzen Region und damit ein bedeutender Anzeigenkunde in jedem Tagblatt. Und so störte sich auch niemand daran, dass direkt über dem Eingang neben dem Schriftzug KAMERADSCHAFT GERMANIA das leuchtende Logo der Brauerei prangte.
Den typischen Charakter einer traditionellen deutschen Wirtschaft hatten die Kameraden ganz bewusst erhalten. Schließlich hatte auch Hitlers Karriere in den Bierkellern der Hauptstadt der Bewegung begonnen.
Bis zu achtzig Neonazis konnten hier an rustikalen Bierbänken und Tischen, die auch die eine oder andere Keilerei aushielten, bewirtet werden. Kulinarisch beschränkte sich der neue Pächter auf Bockwürste, Leberkäse, Kartoffelsalat und Semmeln, aber das Bier kam noch immer aus dem Fass.
Karl musste sich durch die Leiber der Kameraden quetschen, um Thielen sehen zu können, der mit einem Mikrofon in der Hand auf einem Schemel stand und sich im Applaus seiner Anhänger aalte.
Thielen trug heute über seinem Anzug einen langen schwarzen Ledermantel, in Anlehnung an die Mäntel der SS, der ihm eine dominante Aura verlieh. Neben ihm, an einem separaten Tisch, saß Thielens hagerer Parteikollege Helge Eckl in einem dunkelblauen Anzug. Eckl war knapp dreißig und hatte einen stoischen Gesichtsausdruck, der nur selten emotionale Regungen zeigte. Er bediente einen Laptop, der mit einem Beamer verbunden war, und passte so gar nicht in diese martialische Szenerie. Eckl war so etwas wie der IT-Beauftragte der Partei. Er hatte ein Händchen für Computer und besaß ein paar Grundkenntnisse für Webprogrammierung. Ansonsten galt er als schwieriger Typ, mit dem man keinen Spaß haben konnte und der allein schon dadurch verdächtig auffiel, dass er Vegetarier war und Alkohol verabscheute. Eckl war in der Runde der Kameradschaft akzeptiert, aber nicht mehr und nicht weniger.
Der Lichtstrahl des Beamers warf im dicken Rauch der Kneipe den Schriftzug KAMERADSCHAFT GERMANIA mit dem Logo einer Wolfsangel auf die Leinwand. Die Wolfsangel war ein beliebtes Ersatzlogo für das Hakenkreuz und erinnerte mit ihrer zackigen Form stark an die SS-Runen. Mittlerweile gehörte es aber auch laut Strafgesetzbuch zu den in Deutschland verbotenen Zeichen.
Thielen hob selbstgefällig und beschwichtigend die rechte Hand und wartete, bis sich die Menge wieder beruhigt hatte.
Der Schankraum war voll wie noch nie. Diesmal waren es sicher mehr als fünfzig Kameraden – und zu seiner Überraschung war auch sein junger Freund Thomas Worch anwesend und klatschte begeistert Beifall.
Wieder setzte Thielen theatralisch mit einer ausholenden Geste an, um seine Gefolgsleute auf ihre gemeinsame Ideologie einzuschwören.
»Und genau wie in jenen ersten Tagen der Bewegung unseres geliebten Führers müssen wir nun noch wachsamer sein und jeden weiteren Schritt noch sorgfältiger planen. Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben. Der Feind ist stark, und er ist überall. Vielleicht sitzt er sogar hier unter uns? Nein, Kameraden, ich möchte keine Zwietracht sähen, denn das Gift des Misstrauens sitzt tief und zerfrisst auch die stärksten Bündnisse. Aber genau das ist das Ziel dieser Regierung, sie verbreiten ihre Lügengeschichten über uns, spucken auf die Ideale unserer Väter und Großväter und unterwandern unsere Reihen. Aber das lassen wir nicht zu. Kameraden! Das lassen wir nicht zu!«
Thielen muss vorsichtiger sein, dachte Karl. Als offizieller Vorsitzender einer demokratischen Partei durfte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Schon die Floskel »unser geliebter Führer« konnte ihm politisch den Hals kosten. Öffentlich würde er es auch niemals wagen, sich als waschechter Neonazi zu outen, aber hier, unter seinen Brüdern im Geiste, ging ihm gerne mal der Gaul durch. Er liebte es dann, ganz in Goebbels-Manier die altbekannten Phrasen zu dreschen und seine wahre Gesinnung zu zeigen. Aber auch hier war das nicht ganz ungefährlich.
Karl blickte in die Reihen seiner Kameraden und fragte sich, ob unter ihnen ein Spitzel war. Seit 2001 der Verfassungsschutz beim ersten Verbotsverfahren zugeben musste, sogar V-Leute in der Führungsspitze der NPD zu haben, war ein gewisses Misstrauen unter ihnen entstanden. Nur eine falsche Bemerkung, nur eine leichte Kritik an der Bewegung – und schon konntest du in den Verdacht kommen ein V-Mann zu sein. Der Rauswurf aus der Kameradschaft war dann noch das kleinste Übel. Was dachte sich Thielen also dabei, hier solche Reden zu schwingen? Dafür gab es die Anheizer in der Kameradschaft. Typen wie ihn, die reden konnten – und eben nicht in der Partei waren. Der Verfassungsschutz wartete doch nur darauf, dass hochrangige NPD-Mitglieder genau solche Dummheiten begingen – und dann? Menschen wie Thielen lernten einfach nicht dazu. Selbst Hitler hatte nach seinem misslungenen Putschversuch 1923 eingesehen, dass der einzige Weg an die Macht ein legaler sein musste. Und was Thielen hier gerade abzog, war alles andere als legal. Oder gehörte es zu einem Plan, den er bislang noch nicht durchschaut hatte?
»Und ich sage euch, sollten sich hier in unseren ehrenvollen Reihen dreckige Ratten verstecken, die uns ausspionieren, dann werden wir nicht nur dieses Ungeziefer gnadenlos ausmerzen, sondern auch ihre Brut – ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Gesinnung!«, schloss Thielen, deutete mit dem Daumen vor seiner Kehle einen Schnitt an und schwieg.
Ekstatisch johlten und applaudierten die Kameraden und trommelten mit den Fäusten auf die Tischplatten. Es entstand ein ohrenbetäubender Lärm, der durch Mark und Bein ging, begleitet von Rufen wie »Bringt die Schweine um!«.
Thielen hob wieder die Hand, aber es dauerte eine Weile, bis sich auch der letzte Hitzkopf beruhigt hatte und Stille einkehrte.
»Meine Kameraden, meine Blutsbrüder! Ich kenne euch alle und liebe euch wie mein eigen Fleisch und Blut.« Er legte eine Hand auf sein Herz. »Ich weiß, dass in euren Reihen kein Einziger ist, der unseren Bund verraten würde. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Dafür würde ich mein Leben geben!«
Was hat Thielen vor?, überlegte Karl. So theatralisch hatte er ihn selten erlebt. Erst jagte er ihnen eine Höllenangst ein, dann baute er sie wieder auf.
»Angst lähmt, meine Freunde. Aber wir dürfen keine Angst haben, denn vor uns liegen große Aufgaben, für die unser Schulterschluss enger sein muss als jemals zuvor!«
Thielen nickte leicht, und Eckl wechselte zur nächsten Folie in der Präsentation. Die Leinwand zeigte eine 3D-Animation der geplanten Synagoge. Sofort begann