Marie musste erst einmal ihre Kräfte sammeln und eine neue Strategie entwickeln. Sie brauchte Distanz. Distanz zu diesem – sie getraute es sich kaum einzugestehen – widerlichen Kotzbrocken.
»Wir beenden das jetzt, es gibt hier nämlich Menschen, die meine Hilfe annehmen, und offensichtlich gehören Sie nicht dazu.«
»Wow!« Karl Rieger war überrascht. Eigentlich hatte er gerade damit begonnen, diese Stresemann irgendwie zu schätzen. Sie war anders, nicht so wie dieser Türke oder die Sozialarbeiter aus dem Knast. Die hier war irgendwie ehrlich.
Fast enttäuscht sagte er: »Heißt das, ich kann gehen?«
»Das heißt, dass Sie am Montag um zehn Uhr hier wieder auf der Matte stehen. Das heißt, ich besorge Ihnen einen Job. Und das heißt, wenn ich auch nur einen Hauch davon mitbekomme, dass Sie gegen Ihre Auflagen verstoßen, werde ich keine Sekunde zögern, Sie wieder in Verwahrung nehmen zu lassen. Sie finden den Ausgang.«
Marie Stresemann drehte sich nicht mehr um, als sie den Besprechungsraum verließ. Sie wollte nur noch weg.
Karl stand langsam auf und sah ihr nach, wie sie am Ende des langen Korridors um eine Ecke verschwand. Wütend schlug er mit voller Wucht auf die offene Holztür. Ein lauter Knall hallte durch die Gänge.
»Scheiße«, murmelte Karl und stellte damit sein ganzes Leben infrage.
KARL II
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
Es war Mittag, als Karl sich auf dem Weg zur »Kameradschaft« machte. Irgendwo in der Ferne läuteten Kirchenglocken. In dieser gottverdammten Gegend, die von den schwindenden deutschen Anwohnern gehässig »Klein-Istanbul« genannt wurde, hörte man sonst nie Kirchenglocken.
Wenn wir schon dabei sind, Synagogen in Brand zu stecken, könnten wir mit den Moscheen eigentlich gleich weitermachen, dachte Karl.
Die Zentrale der Kameradschaft genau in diesem Viertel anzusiedeln war Kalkül gewesen. Hundertfünfzig solcher Kameradschaften gab es in Deutschland, allein in Sachsen vierzig mit knapp zweitausend Mitgliedern. Als 1995 die »Freiheitlich Deutsche Arbeiterpartei« als verfassungswidrig erklärt und aufgelöst wurde, organisierte sich die extreme Rechte in »privaten« Vereinen, den »Kameradschaften«. Es war damit deutlich schwerer geworden, neonazistische Täter zu belangen. In einem Zivilprozess beispielsweise hätten alle Mitglieder einer Kameradschaft genannt und verklagt werden müssen. Ein raffiniert gesponnenes Organisationsnetz ermöglichte den Führern der rechten Szene, die nach außen völlig autonom agierenden Kameradschaften wie eine geschlossene Vereinigung zu steuern. Und dass diese Führungsspitze sich in der NPD organisierte, war offensichtlich, aber schwer nachweisbar. Karl hing seinen Gedanken nach, während er einen kleinen Park durchquerte, der nachts von Strichern und Junkies bevölkert war. Bei schönem Wetter spielten hier kleine Kinder, die hin und wieder benutzte Kondome und versifftes Drogenbesteck fanden.
Eine absolute Sauerei, und keiner schert sich darum, und die Bullen schon zweimal nicht.
Auch das verpatzte Treffen mit Stresemann ließ Karl keine Ruhe, und so bemerkte er die jungen Türken nicht, die auf einem verwahrlosten Kinderspielplatz herumlungerten.
»Hey … Glatze!«, rief ein breitschultriger Kerl, der auf einer Schaukel gesessen hatte, nun aber mit Schwung auf den Sand sprang und seine Zigarette wegschnippte.
»Hey, ich rede mit dir … Hörst du mich, Glatze?«
Sofort war Karl in Alarmbereitschaft. Langsam drehte er sich um und zählte vier junge Männer, alle wahrscheinlich jünger als er selbst. Mit zweien hätte er es aufnehmen können, aber vier waren eindeutig zu viel. Da er auf der einen Seite keine Lust hatte, mit blutendem Gesicht in der Kameradschaft anzukommen, und auf anderen nach seiner Meinung ein Deutscher in seinem eigenen Land niemals vor Kanaken wegrennen sollte, blieb ihm nur eine Wahl.
Behutsam griff er nach hinten an seinen Hosenbund, wo seine Kleinfeuerwaffe steckte – ohne Seriennummer und geladen.
Die Umgebung war ruhig. Soweit er auf die Schnelle sehen konnte, waren die Balkone leer. Weit und breit sah er keine Fußgänger. Noch immer rauschte der Wind durch die Bäume, und dunkle Regenwolken zogen am Himmel.
»Hast du was auf den Ohren, du Scheiß-Nazi?«
Der Breitschultrige kam bedrohlich auf ihn zu, war aber immer noch etwa zwanzig Meter entfernt. Es war also noch genug Zeit, sich vorzubereiten. Karl entsicherte die Waffe, ließ sie aber im Bund stecken. Dann kramte er aus seiner Seitentasche eine schwarze Strickmütze und stülpte sie sich über den Kopf. Sollte es später doch Zeugen geben, würde man es mit der Identifikation schwerer haben. Eines war klar, er musste sie alle vier kriegen.
Der Breitschultrige zog ein Klappmesser, ließ es aufspringen und ging weiter auf Karl zu. Irgendetwas stimmte da nicht. Warum lief der bescheuerte Nazi nicht weg? Ganz automatisch verlangsamte er seine Schritte.
Die anderen Türken hatten bisher nur lachend zugesehen und ihm aufmunternd zugerufen. Nun aber stand der Glatzkopf einfach so da und zog sich in aller Ruhe eine Mütze auf. Hatte er sie noch alle?
Der Spaß war offensichtlich zu Ende. Keiner von den Türken riss nun mehr starke Sprüche oder lachte. Aber ihr Stolz war zu groß, um den Typen einfach gehen zu lassen oder klein beizugeben.
»Was guckst du so blöd, Nazifresse?«, schrie ihm der Breitschultrige entgegen, der stehen geblieben war.
Karl verharrte regungslos und wartete den richtigen Augenblick ab. Mit einer kleinkalibrigen Waffe konnte man nur aus nächster Distanz wirklich gut treffen.
Ein langer, hagerer Typ hatte seinen Freund inzwischen eingeholt.
»Mach keinen Quatsch, Cevat! Spinnst du?«, sagte er leise zu ihm und hoffte, dieser Tag würde nicht blutig enden.
»Hey Mann, weißt du, was die Schweine mit meiner Schwester …?«
»Ich weiß, ich weiß … Aber wenn wir den jetzt fertigmachen, haben wir nicht nur die Bullen am Hals.«
Ein halbes Jahr lag es zurück, als Cevats Schwester Irem mit ihrem deutschen Freund auf dem nächtlichen Heimweg von einer Gruppe Skinheads angepöbelt worden war. Ihren Freund hatten sie als Rassenschänder beschimpft und festgehalten, während zwei von ihnen Irem zwangen sich hinzuknien, und auf sie urinierten. Allein die Vorstellung machte Cevat noch immer so wütend, dass er sich nicht um die Argumente seines Freundes Namik scherte, sondern wild entschlossen mit gezücktem Messer auf den Neonazi zuging. Er sollte büßen für diese Schandtat.
Karl sah den Breitschultrigen weiter auf sich zukommen. Seine Freunde folgten ihm in leichtem Abstand. Sie redeten laut auf ihn ein. Karl verstand zwar nur ein paar Brocken türkisch, aber auch so war es offensichtlich, dass sie versuchten, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Es waren vielleicht noch knapp zehn Meter, die die Gruppe noch von ihm trennte. Wenn er wollte, konnte Karl die Waffe ziehen und einen Warnschuss abfeuern. Mit etwas Glück würden sich die Türken dann verziehen. Was aber, wenn sie ebenfalls eine Waffe hatten? Er spürte, wie seine Handfläche am Griff seiner Pistole feucht wurde. Keine Sekunde dachte er über die Konsequenzen einer Bluttat nach. Seine Angst vor dem Gefängnis oder davor, Thomas erneut im Stich zu lassen – alles lag hinter einem dichten Schleier verborgen. Er war einzig und allein darauf fokussiert, zu überleben und notfalls zu töten.
Der Breitschultrige würde als Erster dran glauben müssen, aber er würde die Nerven behalten und abwarten, bis er unmittelbar vor ihm stand, dann würde er die Waffe ziehen und ihm eiskalt zwischen die Augen schießen. Karl spürte Regentropfen auf seinem Gesicht.
Namik packte den wütenden Cevat von hinten an den Schultern und versuchte ihn aufzuhalten.