»Was wir wollen? Die Frage ist doch, was ihr wollt! Unsere schöne deutsche Stadt schänden, das wollt ihr doch!«
»Was meinen Sie? Was meinen S…«
Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter. Die Wunde am Auge hatte wieder zu bluten begonnen.
Der Mann neben ihr wurde ungeduldig und schrie sie an.
»Die jüdische Synagoge, du Schlampe!«
Mit einer kleinen Handbewegung zeigte Gottfried seinem Kameraden an, sich zurückzuhalten, aber auch seine Stimme nahm nun einen strengeren Tonfall an.
»Ihr wolltet 2,5 Millionen an Steuergeldern lockermachen für diesen Schandfleck. 2,5 Millionen! Von braven deutschen Bürgern! Doch dann habt ihr euch verzettelt, und die Kohle wurde auf Eis gelegt. So ein Jammer, das hätte sicher ein nettes Feuer gegeben.« Gottfrieds Stimme wurde bedrohlich. »Jetzt muss ich hören, dass ein stinkreicher Itzig den Bau der Synagoge mit seiner eigenen Kohle zahlen will!«
Seligmann hatte endlich verstanden. Ihre Peiniger wollten den Namen des privaten Geldgebers haben, den ihr Rabbi Moshe heute Nachmittag vorgestellt hatte. Aber das konnten sie doch unmöglich schon wissen.
»Ich weiß nichts von einem privaten Geldgeber. Sie müssen mir glauben. Ich …«
Gottfried wandte sich kurz ab und brachte ein Foto zum Vorschein, das er unter das Deckenlicht hielt. Dabei zeigte seine verrutschte Sturmmaske noch mehr von dem Tattoo am Hals, doch Seligmann hatte keinen Blick mehr dafür.
Auf dem Foto waren zwei süße Mädchen zu sehen, die eine junge Frau gerade vom Kindergarten abholte. Selbst die Hand zwischen ihren Beinen und der donnernde Orkan waren nun weit fort, denn inmitten dieser grausamen Szenerie erkannte sie das süße, unschuldige Lächeln ihrer beiden Enkelinnen.
Süffisant kommentierte Gottfried das Bild: »Zwei widerliche kleine jüdische Bastarde. Findest du nicht?«
Die Stadträtin schnappte nach Luft, ihr Schluchzen wurde hysterisch und laut.
»Nein, nein! Was sind Sie nur für Menschen?«
Langsam begann er, kleine Fetzen von dem Foto abzureißen.
»Genau. Wir sind Menschen, aber Ihre kleinen Bastard-Mädchen sind nur verschmutztes arisches Blut. Weißt du, du zitternde Judenschlampe, ich sehe da keine kleinen, niedlichen Kinder. Sondern nur zwei kleine brennende Leiber.«
Gottfried trennte mit einem Riss die Köpfe von den Körpern der Kinder, hob die Sturmmaske an und stopfte sie sich in den Mund.
»Ja, das würde mich glücklich machen!«
Udo gluckste, als er sah, wie Seligmann endgültig zusammenbrach. Sie begann heftig zu zittern, und für einen kurzen Augenblick hatte er Angst, dass die alte Frau einen Herzinfarkt bekommen könnte. Doch dann würgte sie ein Wort hervor.
»Ephraim …«
»Ich versteh dich nicht. Sprich lauter oder deine Judenbrut wird den morgigen Tag nicht erleben. Das schwör ich dir!«
»Ephraim. Ephraim Zamir.«
Die Stadträtin sackte laut weinend zusammen und senkte den Kopf, sie konnte es nicht ertragen, die letzten Fetzen des Bildes ihrer Enkelinnen zu betrachten.
Rennicke zog seine Hand unter dem Rock hervor und roch angewidert an seinen Fingern.
Gottfried griff der Frau nochmals unter das Kinn, hob ihren Kopf an, um ihr tief in die verquollenen und blutverschmierten Augen zu sehen.
»Wenn du gelogen hast, töten wir die Kleinen. Wenn du uns die Bullen auf den Hals hetzt, töten wir die Kleinen. Wenn du weiterhin versuchst, den Bau der Synagoge fortzusetzen, dann töten wir die Kleinen.«
Doch Seligmann hörte kaum mehr seine Stimme und starrte unbewusst auf das Tattoo am Hals des Mannes. Es waren Schlangenköpfe mit herausgestreckten Zungen, die über dem Rundausschnitt des T-Shirts hervorblickten. Das Tattoo an Gottfrieds Hals prägte sich in ihrem Gedächtnis ein.
Grober Sand spritzte auf, als der schwarze Mercedes mit hoher Beschleunigung die Kiesgrube verließ. Am nächtlichen Tatort blieben zwei am Boden kauernde Gestalten zurück, auf die der tobende Herbststurm keine Rücksicht nahm. Seligmann wollte nur noch sterben. Götze nahm seine gebrochene Chefin fest in den Arm und weinte leise mit ihr.
MARIE I
JUNI 1985
Wann es genau passierte, daran konnte Marie sich nicht mehr erinnern. Auch nicht daran, ob sie allein war oder ob ihre Eltern oder ihr kleiner Bruder Simon in der Nähe waren. In ihrer Erinnerung und ihren Träumen fokussierte sich alles auf ein paar wenige Momentaufnahmen, die sich für immer unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Da waren diese warmen Sonnenstrahlen, die zwischen den halb zugezogenen Vorhängen in der Küche eine leuchtende Schneise bildeten. Sie begannen bei der Sitzecke unterhalb des Fensters und endeten direkt beim Herd auf der gegenüberliegenden Seite und tauchten ihn in ein goldenes Licht. Der Herd war etwas größer als sie selbst, mit dicken schwarzen Drehknöpfen, die klackend einrasteten, wenn man sie drehte, und einem Ofen, durch dessen verschmutzte Schutzglasscheibe man kaum mehr das Innere sehen konnte. Und auch jetzt schmorte irgendetwas hinter der dunklen, verschmierten Scheibe, und oben auf den Herdplatten blubberte es kräftig. Ein köstlicher Duft erfüllte die Küche. Immer roch es hier gut, es roch nach Zuhause, hier war sie geborgen und in Sicherheit.
Schon unzählige Male hatte sie ihrer Mutter beim Kochen zusehen dürfen, für sie gab es kaum etwas Schöneres. Mama hielt für diesen Zweck immer einen kleinen Schemel bereit, auf den sich Marie stellte, um die brodelnden Töpfe von oben sehen zu können. Und manchmal, ganz selten, durfte sie auch mit einem Kochlöffel in Mamas Töpfen rühren. Stetig und gleichmäßig, »damit ja nichts anbrennt«, wie Mama ihr erklärte und sie dabei liebevoll in den Arm nahm.
Doch diesmal war Marie ganz allein, allein mit diesem Herd, der leuchtend vor ihr stand und die vertrauten Geräusche von sich gab. Mama war nicht da. Alles, was blieb, war dieses Licht, der Herd und ein Topf, dessen langer, verchromter Stiel weit über den Herdrand hinausreichte. Je näher Marie dem Herd kam, umso lauter wurde das Blubbern des Topfes. Konnte es sein, dass Mama den Topf vergessen hatte? Würde nun alles anbrennen? Würde Mama nicht unendlich stolz sein, wenn Marie mit einem Kochlöffel gleichmäßig den Inhalt verrühren würde? Ihr Blick suchte nach dem Schemel, doch der war nicht zu sehen, und das Brodeln über ihr klang zunehmend bedrohlich.
So klein war sie gar nicht mehr, immerhin war sie vor wenigen Wochen vier Jahre alt geworden. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte ihr ausgestreckter Arm bis zu dem Stiel des Topfes, aus dem nun vereinzelt Tropfen sprangen wie kleine Wasserfeen. Sie musste doch nur den Topf zur Seite schieben, und das Blubbern würde nachlassen, auch das hatte ihr Mama längst beigebracht. Fest entschlossen und in Erwartung des Lobes, reckte Marie sich dem Topf entgegen, bis ihre kleine Finger endlich den Stiel erreichten und kräftig umfassten.
Der Schmerz schoss wie ein Stromschlag durch ihren Körper. Sie schrie auf und riss dabei den Topf mit seiner siedenden Flüssigkeit in die Tiefe.
Wenn sie heute versuchte, sich an den tragischen Unfall zu erinnern, endete alles in jenem Augenblick, in dem der Topf mit dem kochenden Wasser kippte. Es war fast so, als würde er in Zeitlupe auf sie zufallen, als wäre es ganz einfach, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, sie für ihr ganzes Leben zu entstellen. Die Haut war längst verheilt, aber knorpelig und faltig. Von der Schulter bis hinab zur Hüfte vernarbtes Gewebe, unansehnlich und abstoßend. So empfand sie es, wenn sie sich nackt im Spiegel betrachtete.
Den Schmerz, das kochende Wasser, das ihre feine Kinderhaut in Sekundenschnelle aufquellen und platzen ließ, das Klirren des leeren Topfes auf den Fliesen, an nichts davon konnte sie sich mehr erinnern. Auch nicht an die Schreie ihrer Mutter, den Notarzt oder die Einlieferung ins Krankenhaus. Alles war wie ausgelöscht.
Das Leben »danach« begann mit Mamas weinendem Gesicht, umgeben von Ärzten in weißen Kitteln und gleißendem Licht,