SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020. Thomas Röper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783968500317
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von Kompetenzen nach Brüssel eintritt, ohne eine Reform der Zuständigkeiten zu fordern, spricht sich im Klartext für einen Abbau von Demokratie aus. Solange nationale Parlamente noch die Möglichkeit haben, sich gegen Entscheidungen aus Brüssel zu wehren, ist zumindest indirekt noch eine gewisse demokratische Kontrolle und Korrektur von EU-Entscheidungen möglich. Allerdings längst nicht mehr bei allen Themen, denn viele Kompetenzen sind schon mit den Verträgen von Lissabon nach Brüssel gewandert, wo Entscheidungen nun undemokratisch von nicht gewählten Leuten getroffen werden. Und kein gewähltes nationales Parlament kann daran anschließend noch etwas ändern.

      Im Spiegel stand zu Schäubles Ideen: „Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble plädiert dafür, dass bei EU-Entscheidungen der Zwang zur Einstimmigkeit aufgehoben wird. ‚Einstimmigkeitsprinzip heißt, dass der Langsamste alles blockieren kann‘, sagte der CDU-Politiker im Inforadio vom RBB: ‚Deswegen brauchen wir ein System von Mehrheitsentscheidungen, von mir aus qualifizierten Mehrheitsentscheidungen.‘“

      „Mehrheitsentscheidungen“ klingt gut und demokratisch. Ist es aber nicht, denn es bedeutet nach Schäubles Lesart, dass Regierungen sich zusammensetzen, etwas im Hinterzimmer ausklabüstern und dann auch denen aufzwingen, die dagegen sind. Von einer demokratischen Mitbestimmung der Bürger in der EU ist dabei nicht die Rede, sondern davon, dass Regierungschefs weniger Rücksicht auf die Länder nehmen müssen, die eine andere Meinung haben. Solange aber Entscheidungen in derart undemokratischen Prozessen entstehen und es kein demokratisch gewähltes Organ gibt, das gefragt werden muss, ist das der Weg in eine Diktatur der Bürokraten.

      Mit den Verträgen von Lissabon wurde dieser Weg bereits eingeschlagen und die Folgen sehen wir heute in der ganzen EU: Die EU-kritischen Parteien gewinnen immer mehr an Zulauf. Anstatt aber aus diesem Wählerwillen der Menschen den Schluss zu ziehen, dass die EU wieder demokratischer werden müsste, findet Schäuble das Ganze wohl nur lästig und will einfach die „Bremser“ durch Mehrheitsentscheidungen gefügig machen und ihnen ihr Vetorecht nehmen.

      Wenig überraschend findet auch die SPD diesen Abbau von Demokratie gut: „Auch die SPD spricht sich in ihrem Europawahlprogramm, dessen Entwurf der Parteivorstand am Montag beschließen soll, für eine teilweise Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips aus. In der EU-Steuerpolitik soll künftig eine Mehrheit der Staats- und Regierungschefs für Entscheidungen reichen. Zur Begründung heißt es im Programmentwurf, der dem SPIEGEL vorliegt: ‚Die Lähmung durch einzelne Mitgliedstaaten, die nur ihre Pfründe sichern wollen, muss aufhören.‘“

      Was das bedeutet, wird einem klar, wenn man die folgende Forderung von Schäuble liest und darüber nachdenkt, welche Folgen sie in der Praxis hätte: „Schäuble sprach sich zugleich dafür aus, Teile der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik auf die Ebene der europäischen Institutionen zu übertragen. Nur wenn das gelinge, könne man auch einen EU-Finanzminister einführen.“

      Früher war das wichtigste, höchste, sogar „heiligste“ Recht des demokratisch gewählten Parlaments das Recht, über den Haushalt zu entscheiden. Das ist die heilige Kuh der Demokratie, denn über den Haushalt, also die Zuteilung von Geldern, kann man Ideen der Regierung stoppen oder auch fördern. Wer nun die nationale Finanz- und Wirtschaftspolitik auf die Ebene der „europäischen Institutionen“ übertragen will, der sagt nichts anderes, als dass er das wichtigste Feld der Politik, von dem alles andere abhängt, aus der demokratischen Kontrolle herausnehmen und in die Hände von Bürokraten und Beamten überführen will, die niemand mehr demokratisch kontrolliert.

      Wie frei sind Sie noch, wenn jemand anderes über Ihr Geld bestimmt? Sie könnten nicht einmal mehr ins Kino gehen, ohne um Erlaubnis zu bitten.

      Das Gleiche gilt für Staaten, wie Griechenland aus leidvoller Erfahrung berichten kann. Dort hat die EU die Macht über den Haushalt mit katastrophalen Folgen übernommen. Und wenn Schäubles Idee umgesetzt wird, kann Deutschland nicht mehr über Änderungen bei Hartz 4, bei den Renten, bei den Krankenkassenbeiträgen und so weiter entscheiden, weil die Entscheidungskompetenz für alles, was mit Geld zu tun hat, dann in Brüssel liegen würde. Und egal, wie wenig den Deutschen die Entscheidungen aus Brüssel dann gefallen, sie könnten auch durch Wahlen nichts mehr ändern, weil neue Abgeordnete im Bundestag auch nichts ändern könnten, denn sie dürften über das Geld ja gar nicht mehr entscheiden. Auch das EU-Parlament wäre außen vor. Diejenigen, die dann über unser Geld entscheiden, würden in Brüssel sitzen und von niemandem gewählt sein.

      Wie gesagt: Jeder soll über die Abgabe von nationalen Kompetenzen an die EU seine eigene Meinung haben. Aber zuerst müsste die EU demokratisch reformiert werden. Das bedeutet, dass das EU-Parlament die Macht bekommen muss und dass es das EU-Parlament sein muss, das die „EU-Regierung“, also die EU-Kommission, formt. Solange das nicht gegeben ist, dürften keine (weiteren) Kompetenzen an die EU abgegeben werden, weil das diese Kompetenzen der demokratischen Kontrolle entzieht.

      Nach einer solchen Reform der EU kann man dann über alles reden. Dies vorher zu fordern, ist – wie gesagt – die direkte Forderung nach Demokratieabbau. Anscheinend fühlen sich unsere „demokratischen“ Politiker vom demokratischen Willen der Bürger mehr und mehr gestört.

      Für Aufregung sorgte die letzte Frage im Interview, in der es um den Streit zwischen der Fidesz und EU-Kommissionspräsident Juncker ging. Hier zunächst die vollständige Antwort des ungarischen Justizministers: „An dieser Stelle haben wir nicht Juncker als Person angegriffen, sondern die schlechten Entscheidungen der Meinungsführer der Kommission. Wir haben in den vergangenen Jahren festgestellt, dass die Kommission wie ein Politbüro aufgetreten ist. Wir glauben, die europäischen Verträge formulieren eindeutig. Die politische Richtung muss der Europäische Rat bestimmen, in dem die Staatsoberhäupter und Regierungschefs der Nationen sitzen. Heute sinkt aber immer mehr der Einfluss des Europäischen Rates. Aufgabe der Kommission ist es, den Geist der Verträge zu wahren und in der Richtung, die der Rat vorgegeben hat, zu verfahren. Stattdessen sehen wir, dass der Einfluss des Rates sich verringert und die Kommission die politische Richtung vorgeben will.“

      Wer will dem widersprechen? Er hat mit allem Recht. Tatsächlich sollte eigentlich der Europäische Rat die politische Richtung bestimmen, denn dort sitzen gewählte Regierungschefs. Die EU-Kommission schwingt sich aber tatsächlich immer mehr zu einer „europäischen Regierung“ auf, obwohl sie von niemandem gewählt wurde. Demokratie?

      Man stelle sich einmal vor, in Deutschland gäbe es keine Bundestagswahlen, sondern nur Landtagswahlen. Und dann würden die Ministerpräsidenten der Länder unter sich bestimmen, wer Mitglied eines „Deutschen Rates“ wird. Dieser „Deutsche Rat“ wiederum würde dann zusammen mit den Landesregierungen bestimmen, wer Bundeskanzler und Bundesminister wird. Der Kanzler und seine Minister wären also nicht gewählt, hätten aber die Macht.

      Wäre das demokratisch? Eher nicht.

      Aber so ist die EU aufgebaut. Und wenn Ungarn dies kritisiert, hat es in meinen Augen absolut Recht!

      Unsere Medien stören sich am undemokratischen Aufbau der EU jedoch überhaupt nicht, sondern greifen jeden an, der diese Zustände kritisiert. In allen Artikeln der deutschen Medien zu diesem Interview konnte man lesen, dass die merkwürdigen Ungarn Rechtsstaat und Demokratie gefährden und die „gute“ EU-Kommission als „Politbüro“ bezeichnen. Pfui Teufel!

      Jedoch wurden die Argumente Ungarns nirgendwo zitiert oder erwähnt. Und wer hat schon das ganze Interview in der FAZ gelesen?

      Haben Sie beim Lesen der kompletten Antwort des ungarischen Justizministers eine Provokation erkennen können? Ich nicht.

      Der Spiegel kürzte die Aussage des ungarischen Justizministers dann auch so, dass seine Argumente untergingen:

      „Auf die Frage: ‚War das Anti-Juncker-Plakat