Den Mädchen wurde bedeutet, sich zu setzen, dann ergriff ihre Retterin das Wort. „Willkommen in unserer Siedlung Sarscali. Ich bin Nicja, dies sind meine Geschwister Cobruna, Conàed und Rijon.“ Nacheinander zeigte sie auf diejenigen, die zusammen mit ihr angekommen waren.
Conàed war der größte der drei, hatte hellbraune Haare, Lippen, für die ein Model morden würde, ein etwas kantiges, aber bartloses Gesicht und intensive blaugrüne Augen, die nun voll Argwohn und Verachtung auf sie gerichtet waren. Sein Körperbau war beeindruckend, denn seine Schultern und seine Brust waren sehr breit, ohne nach Steroiden auszusehen, während seine Hüften schmal und die Beine sehr muskulös wirkten. Rijon war von ähnlicher Statur, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt. Er war etwa zehn Zentimeter größer als Cobruna, hatte blaue Augen, ein etwas weicheres Gesicht als Conàed und blonde Haare, die er kürzer trug als sein Bruder, während Cobruna rote, wallende Locken, ein puppengleiches Antlitz und olivgrüne Katzenaugen besaß, die auf Nicja gerichtet waren. Sie alle wirkten blass und so elegant, als würden sie schon ihr Leben lang Ballett tanzen.
„Meinen Gefährten Morin und meinen Sohn Tyr habt ihr ja bereits kennengelernt. Zusammen bilden wir die ... Herrscherfamilie, wenn man es denn so übersetzen kann. Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie ihr hier begrüßt wurdet. Wären wir hier gewesen, wäre es wohl etwas anders gekommen.“
Vici, deren bisher ungekannter Kampfgeist wieder aufgeflackert war, unterbrach sie. „Woher sollen wir das wissen? Vielleicht hättet ihr uns sogar sofort getötet, wie es uns schon angedroht wurde. Und was seid ihr für Menschen, dass ihr hier so lebt? Eine Sekte? Kamen von euch die Briefe, die uns hierher gelockt haben?“
Nicjas Lächeln sah gequält aus. „Ihr wäret nicht gestorben, dafür hätte ich gesorgt. Aber ich weiß von keinen Briefen oder von wem sie stammen könnten. Doch es ist nicht wichtig, aus wessen Feder sie flossen, aus ihnen spricht der Wille unserer Göttinnen. Und wir sind keine Sekte, sondern ...“
Da trat Conàed vor und sagte mit schneidender Stimme: „Du brauchst nichts weiter zu erklären, Schwester, bevor wir nicht den Beweis haben, dass sie von den Göttinnen gesandt wurden und nicht doch Verräterinnen sind. Natürlich wurde dir Hilfe prophezeit und die Vermutung, dass es Menschen sein sollen, ist gerechtfertigt, aber ich bezweifle, dass diese schwachen, zierlichen ... Mädchen uns in irgendeiner Weise helfen können.“ Seine Stimme troff vor Verachtung und Argwohn.
Alles in allem war seine Aussage extrem demütigend und Tran wusste nicht, ob sie lieber weggelaufen oder im Boden versunken wäre. Aber irgendwie hatte er recht.
Sie sah, wie Ana ansetzte, ihm etwas Beleidigendes an den Kopf zu werfen, und trat ihr unter dem Tisch gegen das Bein.
Da ergriff Nicja wieder das Wort und machte einen Kommentar Anas sowohl unmöglich als auch unnötig. „Dieses Mädchen“, sie deutete auf Tran, „ist mir erschienen, als ich aus der Großen Höhle kam. Und ich spüre den Segen Varas auf ihnen allen. Und doch, habt ihr die Briefe dabei?“
Wortlos zog Tran die drei Schreiben aus ihrem Rucksack und legte sie auf den Tisch.
Nicja und ihre Geschwister beugten sich darüber und lasen sie. Sie wirkten erschüttert und mit einem Mal von jeglichen Vorbehalten befreit. Zumindest machten sie diesen Eindruck, doch die glatten, schönen Gesichter waren um einiges schwerer zu lesen als alle anderen, die Tran jemals zuvor gesehen hatte. Bis auf eines ...
Sie verbot sich den Gedanken an Sirman sofort und richtete ihre Aufmerksamkeit, so gut es ihr gelang, wieder auf die unterschiedlichen Geschwister. Sie redeten scheinbar aufgewühlt in einer fremden Sprache miteinander, bis Cobruna das Wort an sie richtete.
„Und wieder müssen wir uns entschuldigen, diese Briefe haben euch sicherlich ziemlich verwirrt und geschockt, doch trotzdem seid ihr hergekommen. Wir müssen nun besprechen, was weiter zu tun ist, doch ihr seid sicherlich erschöpft. Ich zeige euch eine Wohnung, in der ihr bleiben könnt, solange ihr bei uns seid.“ Damit winkte sie die verwirrten und müden Mädchen herbei und ging mit ihnen zu einer der kleineren Hütten, die im selben Baum errichtet worden waren.
Tran hatte bemerkt, dass Vici noch etwas hatte einwerfen wollen, doch war sie zu erschöpft gewesen, um sie davon abzuhalten. Zum Glück war Vici schlau genug, ihren Kommentar für sich zu behalten.
Die Hütte bestand aus zwei Räumen, einem Schlafraum mit Truhen und Betten und einer kleinen Kammer mit mehreren Vertiefungen im Boden und in Hüfthöhe auf Podesten.
„Was ist das?“, fragte Ana abwertend.
Falls Cobruna der unfreundliche Ton aufgefallen war, so sagte sie nichts dazu. „Hier ist das Badezimmer. Wasser wird euch gebracht werden.“ Sie waren zu erschöpft zum Antworten. Anschließend erklärte Cobruna ihnen, wo sie etwas zu essen bekommen konnten und wann sie sich am nächsten Morgen im Palast, dem großen Baumhaus, einfinden sollten. Dann verließ sie die Hütte und die Mädchen waren zum ersten Mal seit dem Ritual an der Blutbuche wieder unter sich.
„Sie hat uns trotzdem nicht verraten, was sie sind oder was wir hier machen“, brummelte Vici müde vor sich hin, bevor sie sich in eines der Betten legte, eine dünne Decke über sich zog und den anderen eine gute Nacht wünschte. Sie schloss die Augen und war innerhalb weniger Atemzüge eingeschlafen.
Auch Tran merkte die bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern und ging zu dem Bett, das noch nicht von Vici oder Ana, die ebenfalls schon schlief, besetzt wurde. Als sie sich hineinlegte, merkte sie erstaunt, wie weich die Liegestatt war. Und sobald sie die Decke über sich gezogen hatte, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Kapitel 12
Tran erwachte am nächsten Morgen als Erste gut ausgeruht und entspannt. Als sie aufstand, schmerzte ihr gesamter Körper von der Tortur der vergangenen Tage. Doch von der Gefangennahme und der Morddrohung gegen Vici mal abgesehen, konnte sie sich an kaum etwas erinnern. Sie wusste, dass sie mit den anderen beiden ein seltsames Ritual durchgeführt hatte, dass sie über einen verborgenen Pfad hierhergekommen und zwei Tage und Nächte lang an einen Baum gefesselt gewesen waren. Ansonsten erinnerte sie sich nur noch an die Rettung durch Nicja, ihre nicht existierende Zwillingsschwester.
Da war noch mehr gewesen, doch bei dem Gedanken daran wollte ihr Kopf schier bersten. Bilder von unzähligen fein geschnittenen Gesichtern blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Was waren das für Leute?
Als sie ihre Aufmerksamkeit von den wilden, haltlosen Gedanken in ihrem Kopf auf ihre Umgebung lenkte, sah sie, dass man ihnen Kleidung hingelegt hatte, denn der Tag war in Sarscali bereits angebrochen. Es war sogar schon Mittag, stellte Tran fest, als sie auf ihre Uhr blickte. Bereits vor zwei Stunden hätten sie im Palast sein sollen. Doch das war ihr ziemlich egal und so suchte sie sich erst einmal ein hübsches Kleid aus dem Klamottenstapel aus und zog es an. Es war hellgrün wie die Farbe der Frühlingsblätter und mit fein gearbeiteten Ornamenten in ebendieser Form bestickt. Eine Haarspange war daran festgemacht und Tran steckte sich damit ihre Mähne hoch. Außerdem fand sie drei Paar seltsamer Schuhe aus Leder und mit ziemlich dünner Sohle, die mit Lederschnüren oben zusammengebunden wurden. Sie schlüpfte in eins davon hinein und wunderte sich darüber, wie bequem die Fußbekleidung war. Sie spürte zwar jede Unebenheit auf dem Boden, doch es war nicht unangenehm.
Plötzlich seufzte Ana im Schlaf auf, drehte sich um und fiel aus dem schmalen Bett. Mit einem unterdrückten Aufschrei wachte sie auf und starrte verwirrt zu Tran hoch. Nachdem sie sich zusammengereimt hatte, was passiert war, lief sie dunkelrot an vor Scham, richtete sich auf und warf die Decke zurück aufs Bett.
Tran war in der Zwischenzeit ins Badezimmer gelaufen, um dort in schallendes Gelächter auszubrechen und Vici nicht zu wecken. Das übernahm Ana, bevor sie sich zusammen über den Kleiderstapel hermachten. Schließlich erschien Ana mit einem malvenfarbenen und Vici mit einem dunkelblauen Kleid.
Ana sah unzufrieden aus. „Auch wenn ich