Sie stimmten darüber ab, was mit uns passieren sollte, so viel bekam ich noch mit, doch als ein einstimmiges „Ja“ ertönte, schwanden mir die Sinne und dankbar ließ ich mich in die Schwärze sinken.
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Als Vici ohnmächtig wurde, sackte sie kaum zusammen, so stramm waren die Seile, die alle drei fesselten, gebunden. Ana starrte sie einen Moment fassungslos an, dann richtete sie ihren Blick auf Tyr, der hinter Morin stand, und schrie: „Ihr Bastarde! Ihr bescheuerten, in Drecklöchern lebenden Parasiten, ihr habt keine Befugnis dazu, sie zum Tode zu verurteilen.“ Sie hatte einmal ein juristisches Praktikum gemacht, das kam ihr nun zugute. „Die Todesstrafe ist nur noch in einigen Staaten der USA zugelassen und wir befinden uns in Irland, in einem baumverseuchten Wald, der noch dazu stinkt und einen schmutzig macht. Verräter werden heutzutage nur noch zu Geldstrafen oder Gefängnis verdonnert, selbst ihr könnt für Verrat keine schlimmere Strafe verhängen. Vor allem nicht, wenn kein eindeutiger Beweis für ihre Schuld vorliegt.“
Sie schnappte nach Luft und in diesem Moment erklang schallendes Gelächter auf der sonst ruhigen Lichtung. Es stammte von einem der Männer aus der Menge, er hatte seinen erstaunlich mädchenhaften Kopf in den Nacken geworfen und lachte Ana aus. Dann sah er ihr in die Augen und sagte: „Wir sind hier weit entfernt von jedem menschlichen Gericht und es gibt niemanden, der uns daran hindern könnte, unsere eigenen Strafen zu vollstrecken.“ Mit einem Mal wurde er still und ernst. „Und doch, Morin, lass deine Óndra darüber entscheiden, was mit ihnen geschehen soll, sie und ihre Geschwister, denn vielleicht hat sie etwas von Vara empfangen, von dem sie uns nichts erzählt hat.“
Morin zögerte mit einer Antwort, doch als er sie gab, klang sie bestimmt. „So etwas Wichtiges hätte sie mir nicht verschwiegen. Und auch Tyr hätte es in ihren Gedanken lesen können. War da etwas, Tyr?“ Dieser schüttelte den Kopf.
Im Stillen wunderte sich Ana darüber, dass Tyr irgendetwas in den Gedanken eines anderen gesehen haben sollte. Gab es jetzt etwa auch noch dieses Gedankenlesezeug?
Sie hörte nicht weiter zu, als Morin mit demjenigen, der sie ausgelacht hatte, diskutierte, ob sie auf irgendwen warten sollten oder nicht, denn sie wurde von Vici abgelenkt, die langsam den Kopf hob und sich verwirrt umsah. Ihr schien das Geschehene wieder einzufallen, denn sie zuckte zusammen und sah dabei ziemlich erschrocken aus.
Ana fasste sie am Handgelenk, um sie zu beruhigen, und Vici verstand. Schlaues Mädchen.
Doch auch den anderen war nicht verborgen geblieben, dass Vici erwacht war, denn Morin und Tyr waren einen Schritt auf sie zugetreten und beobachteten sie genau.
In dem Moment stürmten vier weitere Gestalten den Platz und die vorderste von ihnen rief: „Macht sie sofort frei!“
Die Menge teilte sich vor der Frau, die auf die Gefangenen, Morin und Tyr zusteuerte. Ana nahm an ihr sofort das lange schwarze Haar und das schwarze Kleid mit Ledermieder wahr, das ihre Figur betonte. Als Letztes registrierte sie die durchdringenden, großen grauen Augen, die die Umgebung geschäftsmäßig und kalt musterten. Anas Blick huschte prompt zu Tran, die schweigend und ungläubig die Szene verfolgt hatte und nun ihrerseits völlig entgeistert die Neue musterte.
Die beiden sahen sich extrem ähnlich, ihre schwarzen Haare waren gleich lang, die Augen grau und groß, und wenn Ana sich nicht täuschte, hatten sie sogar die gleiche Körpergröße. Die Gesichtszüge der Fremden waren vielleicht ein wenig ebenmäßiger, aber ansonsten hatten sie sogar die gleiche Gesichtsform.
Als Anas Blick zurück zu der Neuen schweifte, strich diese gerade kurz mit der Hand über Morins Schulter. Dann zückte sie ein kleines Messer und kam auf die Mädchen zu. Ana spürte, wie Vicis Hand sich anspannte, wie sie verkrampfte, und nahm dieselbe unwillkürliche Reaktion bei sich selbst wahr. Doch der Dolch richtete sich nicht gegen ihre Körper, sondern gegen ihre Fesseln, die nun von ihnen abfielen. Die drei jungen Frauen wankten, als sie wieder auf ihren eigenen Füßen standen, und sahen ihre Befreierin trotzig an.
Die anderen drei Neuankömmlinge, die nicht sogleich nach vorne gestürzt waren, traten derweil näher, vorsichtig und wachsam, wie es schien.
Da erklärte die Frau, die so aussah wie Tran: „Draugrande, diese Menschen sind fürwahr von unseren Göttinnen geschickt worden und wir werden sie aufnehmen in unseren Reihen. Eine Abstimmung ist unnötig.“ Damit drehte sie sich um, ging davon und rief über die Schulter zurück: „Kommt, Mädchen!“
Tran sah ihre beiden Gefährtinnen kurz an, ehe sie der Frau folgte. Vici und Ana tauschten einen verwirrten Blick, schlossen sich ihrer Verbündeten jedoch an. Was hätten sie sonst auch tun sollen?
Sie gingen beinahe durch das gesamte Dorf, bis die Frau vor einem riesigen Baum anhielt. Sein Durchmesser betrug etwa sechs Meter und er reichte so weit hinauf, dass Ana nicht sagen konnte, ob er überhaupt endete. Am Stamm, der wie mehrere verzierte Säulen nebeneinander wirkte, schlängelte sich eine Treppe empor und auf den Ästen, die so breit wie Bürgersteige waren, standen kleine Häuschen, deren Dächer in der Mitte spitz zusammenliefen. Stufen führten von ihnen aus durch den gesamten Baum, sie trafen sich, waren durch Stege miteinander verbunden und führten auf eine große Plattform hoch oben in der Baumkrone, an die ein riesiges, einschüchterndes Haus angrenzte. Es war verziert mit Säulen in verschiedenen Formen und Mustern, die allesamt von Efeu bewachsen waren. Das Gebäude hatte zwei Stockwerke. Die Wand des unteren wurde von zahlreichen mannshohen Fenstern durchbrochen und die des oberen wies eine ähnliche Struktur auf wie die Dächer der Hütten. Der Übergang von einem zum anderen war fließend und verwischte vor ihren Augen.
Ana war nicht aufgefallen, dass sie wie ein hirnloser Idiot mit offenem Mund nach oben gestarrt hatte. Schnell schloss sie ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre nähere Umgebung. Tran und Vici glotzten immer noch nach oben, völlig verzaubert von dem Anblick, während die Neuankömmlinge sie beobachteten. Die Frau und Morin unterhielten sich inzwischen leise, zu leise, als dass Ana etwas verstehen konnte, und Tyr beobachtete sie, zumindest so lange, bis sie ihn anschaute. Da blickte er weg, ein typisches Zeichen für Scham. Wenn sie auch nicht wusste, was sie von alledem hier halten sollte, so kannte sie sich doch mit Jungs aus. Das war beinahe ein Trost, denn sie fühlte sich extrem verloren in diesem Wald. Dass sie damit die Einzige war, wurde klar, sobald man die anderen beiden betrachtete. Sie staunten über alles Neue, waren voller Bewunderung und offen dafür, während Ana ihrem Whiskey und ihren Partys hinterhertrauerte.
Sie stupste Vici und Tran an, die aufschreckten und sich sogar ein bisschen schüttelten. Es erfüllte sie mit Genugtuung, dass die anderen beiden völlig verzaubert dagestanden hatten, während sie einen kühlen Kopf bewahrt hatte.
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Immer noch beschäftigte Tran die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen sich und der Unbekannten, aber die Gedanken daran waren ziemlich schnell vergessen, als sie dieses riesige Baumhaus erblickte. Es war beeindruckend, so weitläufig und irgendwie magisch. Sie hätte stundenlang dastehen und es bewundern können, aber Ana holte sie in die Realität zurück.
Die anderen schienen darauf zu warten, dass sie ihnen weiterhin folgten, denn ihre Retterin hatte bereits einige Stufen der Wendeltreppe erklommen und schaute sie streng an. Die drei Mädchen zogen ihre Köpfe ein und folgten ihr gehorsam, unwissend, was sie erwartete.
Schwer schnaufend kamen sie nach einer gefühlten halben Stunde oben an. Nachdem sie zwei Nächte hindurch beinahe ununterbrochen gestanden hatten, war dieser Aufstieg noch anstrengender gewesen als unter normalen Umständen. Die ganze Zeit hatten sie die verächtlichen Blicke Morins und anderer ertragen müssen und waren nun, nachdem sie endlich oben angekommen waren, nicht nur fertig mit ihren Kräften, sondern auch mit ihren Nerven.
Sie folgten ihren Gastgebern wortlos in das Baumhaus, das innen noch größer war, als der äußere Eindruck vermuten ließ. Das Zimmer, in dem sie sich nun befanden, sah erstaunlich normal aus, so normal, wie ein Zimmer mit Wänden und Boden aus einem einzigen Stück Holz eben sein konnte. Die Einrichtung