„Was sind das für Krähen?“, fragte Merlandra stattdessen.
„Das sind ganz normale Krähen, wie sie jeder von uns hält. Doch sie haben sich gegen uns gewandt und kratzen uns die Augen aus, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen.“
Nach einer halben Stunde ertönte draußen das Signal, dass die Krähen bezähmt waren. Vor dem Palast lagen ein paar tote Exemplare, die gerade von einigen Dienern weggeschafft wurden. Merlandra würdigte sie keines Blickes.
Auf dem Rückweg redete keiner der beiden ein Wort, auch in der Hütte Rajas herrschte weiterhin Stille. Selbst der überraschende Angriff war nicht interessant genug für ein Gespräch. Doch Merlandra störte es nicht, denn ihr Herz war zu Stein geworden, erkaltet und erhärtet ob der nicht vorhandenen Liebe ihrer Mutter.
Der Dunklen. Nicht ihrer Mutter. Sie hatte keine Mutter.
So einfach war das. Nie wieder würde sie etwas näher an sich heranlassen, das schwor sie bei Tarwod. Und der Gott erhörte sie.
*
Kapitel 11
Wir gingen auf dem Weg weiter, als uns auf einmal etwa zwölf hochgewachsene Gestalten entgegenkamen. Sie hielten Bogen und Schwerter in den Händen, schienen angriffslustig und gefährlich zu sein. Sie hatten schlanke, muskulöse Gliedmaßen und ebenmäßige Züge, die jedoch unter ihren weiten Kapuzen kaum zu erkennen waren.
Verunsichert blieben wir stehen, doch die anderen marschierten weiter auf uns zu. In mir erhärtete sich der Verdacht, dass diese ... Toúta uns nicht wohlgesinnt war. Ich fing Trans Blick auf, der Verwirrung und Angst offenbarte, und runzelte die Stirn. Sie schüttelte leicht den Kopf als Zeichen, dass ich nichts unternehmen sollte. Wir sahen erneut die Fremden an, die sich nun bedrohlich vor uns aufbauten.
Nach langer Stille fragte endlich jemand aus der Menge mit klingender Stimme: „Was tut ihr hier? Wem folgt ihr und wie seid ihr in diesen Teil des Waldes gelangt? Sprecht rasch!“
Ich spürte Anas Blick auf mir ruhen, doch ich musterte konzentriert die Gestalt in dem dunkelgrünen Umhang vor mir. Sie kam mir vertraut vor. Plötzlich stieß mich Tran, die links von mir stand, an und schob mich etwas nach vorne. Das bedeutete wohl, ich sollte unsere Geschichte erzählen.
Stockend begann ich. „Wir wissen nicht, wer ihr seid oder warum wir hier sind. Aber wir haben Post erhalten. Verworrene Rätsel. Sie schienen zusammenzugehören und sie haben uns aufgefordert hierherzukommen, indem sie uns offenbarten, welche Handlungen wir dafür an der Blutbuche durchführen mussten. Es war irgendeine Art seltsames Ritual oder Ähnliches. Auf jeden Fall haben wir das gemacht. Es war ziemlich unheimlich, aber dann erschien dieser Pfad und wir sind ihm bis hierher gefolgt. Wer seid ihr, wenn man fragen darf?“ Die Worte waren ohne mein Zutun aus mir herausgesprudelt wie schon in der Gegenwart Transcas vor einer Woche, als wollte ich unbedingt der ganzen Welt meine Geheimnisse verkünden. Aber das war jetzt nebensächlich. Keiner der Fremden gab seine Kampfhaltung auf, niemand schien mit meiner Erklärung zufrieden zu sein oder mir antworten zu wollen. „Von wem erhieltet ihr diese Rätsel?“, wollte schließlich eines unserer Gegenüber wissen.
Ana antwortete, bevor ich dazu Gelegenheit hatte, und trat vor. „Sie kamen anonym. Aber wir hatten auch Träume, obwohl ich nicht weiß, was euch das angehen sollte. Darin kamen so seltsame Bezeichnungen vor. Nykra, Billingra und Blawde. Wenn ihr mich fragt, sind das absolut bescheuerte Namen. Oh, und eine komische Midjis wurde auch genannt. Vielleicht sind wir einfach verrückt geworden, aber trotzdem wollt ihr uns nichts zu trinken anbieten?“ Sie wollte anscheinend witzig sein, doch die Reaktion auf ihre Worte konnte kaum weniger amüsiert ausfallen.
„Wir wissen nicht, wie ihr von unseren Göttinnen erfahren habt, aber ihr seid nicht würdig, ihre Namen in den Mund zu nehmen. Außerdem erhielten wir keinerlei Nachricht von unserer Priesterin über menschliche Besucher.“ Dann rief der Wortführer etwas in einer unbekannten Sprache und einige aus der Menge begannen, uns zu fesseln und zu knebeln.
Obwohl wir uns wehrten, brachte es nichts, denn die Fremden waren unglaublich stark, und ehe wir uns versahen, standen wir aneinandergebunden und geknebelt in der Mitte einer wütenden Menge von seltsamen, noch immer verhüllten Gestalten. Meine Gedanken, die für ihre wilden Sprünge beinahe berühmt waren, wurden mit einem Mal auf die Geschichten über Feen und Elfen gelenkt, die ich als Kind verschlungen hatte. Die meisten dieser Wesen lebten im Wald, verborgen von Schutzzaubern.
Ich betrachtete unsere Entführer. Sie waren alle groß und sportlich, trugen bis zum Boden reichende Umhänge mit großen Kapuzen und sprachen, soweit ich das anhand der vorangegangenen Unterhaltung beurteilen konnte, ziemlich altmodisch. „Das sind noch lange keine Beweise!“, rief ich mich schnell zur Ordnung.
Fast hatte ich den Gedanken wieder verbannt, als mein Blick auf ein Mädchen fiel, welches schräg rechts vor mir ging. Ihre Kapuze war nach hinten gerutscht, ihre langen braunen Haare flatterten im Wind, sodass sie sie zurückstrich und dabei unnatürlich spitze Ohren entblößte, die ich zunächst nicht einmal wirklich registrierte, weil sie so gut zu ihr passten.
Als ich jedoch endlich begriff, was sich mir offenbarte, richtete ich meinen erstaunten Blick auf Ana und Tran, die das Mädchen ebenfalls anstarrten, und hob fragend die Augenbrauen. Auch wenn wir uns noch nicht lange kannten, so konnte ich mir doch vorstellen, dass sie meine Mimik richtig interpretierten, es hatte schließlich schon einmal geklappt. Ana runzelte die Stirn, verzog den Mund und schüttelte den Kopf, Tran zuckte mit den Schultern. Wir waren also alle drei ziemlich ahnungslos. Konnten denn Elfen, Sidhe ‒ oder wie man sie nennen mochte ‒ wirklich existieren?
Sicherlich träumte ich nur und wachte bald wieder in meinem Bett in unserer Ferienwohnung auf. Hoffte ich. Denn ich bekam ein flaues Gefühl im Magen, das mir sagte, dass ich nicht hier sein sollte, dass mir etwas Schlimmes passieren würde. Verschwommen nahm ich den Wald um mich herum wahr, wie die Bäume weiter zurückwichen und seltsame Formen bildeten. Alles sah unscharf aus, egal, wie oft ich blinzelte. Als wäre meine Brille beschlagen, doch ich wusste, dass sie komplett sauber war. Es wirkte, als beulten sich die Bäume aus, Äste verbogen sich auf unnatürliche Art, Blätter verdeckten die Sicht und schienen sich gegen den Wind zu bewegen. Ich erkannte keinen Sinn in dieser Anomalie, verstand nicht, was hier vor sich ging oder warum alles vor meinen Augen verschwamm.
Die fremden Gestalten führten uns unbarmherzig weiter, schleppten uns zu einer Lichtung, auf der bloß ein einzelner Baum stand, eine große Linde, wie ich schnell erkannte. An deren Stamm fesselten sie uns und verschwanden anschließend im Dickicht der Bäume, als ob sie nie existiert hätten. Nur zwei Wachen hatten sie dagelassen, die uns die Knebel abnahmen, bevor sie sich auf den Boden hockten und sich anscheinend einem Spiel widmeten.
Allmählich konnte ich wieder klar sehen, fing Anas ärgerlichen Blick auf und flüsterte: „Habt ihr eine Ahnung, was hier los ist? Was wollen die von uns?“
Nun hob Tran, die den Wächtern beim Spielen zugeschaut hatte, den Blick und antwortete genauso leise: „Ich hab nicht die leiseste Ahnung, nur ein paar fantastische Hirngespinste, die ich allerdings nicht aussprechen möchte. Vor allem bin ich erstaunt. Habt ihr diese tollen Baumhäuser gesehen? Das muss cool sein, dort drin zu wohnen.“
Verwirrt schaute ich mich um, denn mir war nicht klar, was sie mit Baumhäusern meinte. Ich hatte nichts dergleichen bemerkt bis auf ... Mein Blick schweifte wieder zu den seltsamen Verformungen in den Bäumen. Und tatsächlich, mein Blickwinkel schien sich kaum merklich zu ändern, bis ich Häuser erkannte, die sich so perfekt an die Stämme und Äste anpassten, dass sie kaum auffielen.
„Das ist ja toll!“, rutschte es mir heraus. Einer unserer Wächter schaute zu mir auf und ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Dann beugte er den Kopf schnell wieder nach unten und ich war mir beinahe sicher, mir seine Reaktion bloß eingebildet zu haben.
Ana schnaubte unwillkürlich.