Ob ich zu Hause Verwandte hätte? Diese Frage hatte ich befürchtet. Ob meine Eltern noch lebten? Meine Mutter war ja tot, ob mein Vater noch lebte, war mir nicht bekannt. Widerwillig erwähnte ich Adele, meine ältere Schwester, konnte aber keine Adresse bekannt geben. Adele hatte sich vor einiger Zeit scheiden lassen, ob sie ihren früheren und damit meinen Familiennamen angenommen hatte, war mir entfallen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden sie schon finden. Sicher wird sie ihrem Bruder aus der Klemme helfen und den Heimflug bezahlen können.«
Er mahnte mich, diese Hilfe auch tatsächlich anzunehmen. Die Botschaft werde gerne behilflich sein, die Fahrt zum Flughafen und das Check-in zu organisieren, ebenso auch die Frage des illegalen Aufenthalts mit den Behörden des Landes zu klären. Man verfüge über hervorragende Beziehungen, schließlich würden die maßgeblichen Personen stets zu diversen Essen und Empfängen eingeladen, die niedrigeren Chargen erhielten die üblichen Aufmerksamkeiten. Wo man mich zur Zeit erreichen könnte? Als ich ihm die Höhle beschrieb, zuckte er zusammen, dorthin etwas zustellen zu lassen, erschien ihm absurd.
»Wir lebten früher alle in Höhlen, vor allem unsere Vorfahren zu Hause in den gebirgigen Regionen. Ich sehe nichts Abwegiges darin.«
Der Konsul versuchte, auch hier das Beste herauszuholen: »Besser, Sie melden sich in zwei bis drei Tagen bei uns.«
Als ich nach vier Tagen ebenso widerwillig wie das erste Mal bei der Botschaft erschien, war der Konsul bestens gelaunt: »Ihre Frau Schwester war gleich bereit, Ihnen ein Flugticket zu buchen und Sie daheim an den richtigen Arzt zu vermitteln. Wann wollen Sie fliegen?«
Ich war erstaunt, dass Adele tatsächlich etwas für mich tun wollte.
»Da muss ich erst mit Coumba reden, sie muss auf jeden Fall mit mir nach Europa.«
Das Gesicht des Konsuls verdüsterte sich: »Wie stellen Sie sich das vor, ohne Visum kommt die Dame nicht nach Europa. Dafür muss sie erst einen Antrag bei uns stellen, wobei sie besonders nachweisen muss, hierzulande verwurzelt zu sein, sprich, nicht die Absicht zu haben, sich klammheimlich während einer als kurzfristig angegebenen Reise – und nur eine solche kann sie überhaupt hier beantragen, soweit ich das sehe – in Europa niederzulassen und die Zahl der bereits vorhandenen Illegalen noch weiter zu erhöhen. Illegale wie Sand am Meer! Sehen Sie sich doch nur die Strandverkäufer in Italien an. Der europäische Tourist kann sich ja gar nicht richtig erholen angesichts der zahlreichen Belästigungen und der Realitäten auf dieser Welt, denen er ausgesetzt ist. Die Schwarzen haben ja schon alle Bastionen gestürmt – sehen Sie sich doch nur die französische Fußballmannschaft an, kein Weißer mehr darunter! Täglich die Nachrichten von Durchbrüchen an den Grenzzäunen um die spanischen Exklaven in Marokko und über die Ankunft Tausender auf Booten über das Mittelmeer. Da müssen doch zumindest wir unseren bescheidenen Beitrag leisten und, soweit es geht, das illegale Ausnützen von Besuchsvisa unterbinden.«
Er biss sich auf einmal auf die Lippe, offenbar hatte er sich gehen lassen und war sich dessen erst jetzt bewusst geworden.
»Verzeihen Sie, wenn ich jetzt emotional wurde, aber wir sind hier tagtäglich eben mit allen möglichen Versuchen konfrontiert, zu einem Visum für das magische Schengenland zu gelangen. Ganz als hätten die Leute hier nicht genug mit dem Magic Land, dem Vergnügungspark auf der Corniche, nein, es muss mehr sein als das, die eine Illusion reicht ihnen wohl nicht.«
Und er fing an, das, wie er es nannte, »Regelwerk« des Schengener Kodexes zu zitieren, als ob ein Schauspieler den Faust rezitiert, oder eher noch aus dem Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein, demzufolge ja die Welt alles ist, was der Fall ist. Erschöpft hielt er nach einiger Zeit inne, blickte auf die Armbanduhr und drückte mir seufzend ein Formular in die Hand, mit dem Coumba ihr Visum beantragen könne.
»Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, dass sie es auch bekommt«, meinte er zum Abschied, indem er mich mit einem Händedruck sanft durch die Eingangstür ins Freie hinausschob.
Als ich Coumba vorschlug, sie solle mich nach Europa begleiten – denn ich war mir damals sicher, dass ich dank Adele alles bekommen würde, das zweite Ticket und das Visum –, war sie verwundert, ja eigentlich schien sie alles andere als erfreut.
»Aber wenn du meinst, dass du nicht allein reisen kannst, komme ich natürlich mit. Was wird nur meine Familie dazu sagen? Viele meiner Bekannten träumen davon, nach Europa zu reisen und dort arbeiten zu können. Ich meinerseits fühle mich hier bei uns recht wohl. Ich würde den Ruf des Muezzins vermissen, die heiße Sonne unserer Heimat, die warmen Abende, wenn wir alle im Freien sitzen und uns austauschen, jeder über sein Leben, seine Erlebnisse, auch wenn sie vielleicht nur einfach und ärmlich sind. Meine Schwester, ihre Kleinen, meine Freundinnen, meine Arbeitskolleginnen bei Madame Mbengue, wir sind doch alle wie eine große Familie, die ich zurücklassen müsste.«
Ich war enttäuscht. Wäre die Fahrt nach Europa nicht auch eine Verbesserung ihres Lebens?
»Dann fahre ich halt allein«, reagierte ich trotzig und wandte mich beleidigt ab. Sie begann zu weinen. Still flossen die Tränen über ihr hübsches Gesicht.
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