Rückkehr nach Europa. Gerhard Deiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Deiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650103
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ein leises Zittern ihren Körper. Dann presse ich sie noch enger an mich und beruhige damit auch mich. Gemeinsam sind wir stärker und gemeinsam werden wir dem, was auf uns zukommt, gelassen entgegentreten, auch wenn wir Außenseiter sind, die auf dem Boot eigentlich nichts verloren hätten.

      Abdoulaye steht plötzlich vor uns und brüllt uns an, senkt jedoch gleich wieder die Stimme. Wo wir steckten, man warte nur noch auf uns. Badous Steuermann ist auch sein bedingungsloser Gehilfe. Er liebt es offenbar, herumzukommandieren und sich wichtigzumachen, anders als Badou, der zwar bestimmt auftritt, aber nie lauter spricht als nötig. Ich befühle meinen Seesack von außen und spüre die Umrisse des Pakets. Ich helfe Coumba auf und trage auch ihren Sack zum Boot. Gemeinsam mit Abdoulaye werden wir zur Ada Bintou übergesetzt und klettern an Bord. Die Dunkelheit breitet gnädig einen Mantel über uns aus.

      Im Heck haben sich Badou und Abdoulaye einen größeren Platz ausbedungen, nicht nur um von dort aus das Schiff zu lenken und die Bootsinsassen im Blick zu haben, sondern auch um sich abwechselnd ausruhen zu können. Mittschiffs sind die begehrtesten Plätze, die auch schon alle belegt zu sein scheinen, zumindest streiten sich etliche darum. Acht aus Guinea, die der Ethnie der Peul angehören dürften, haben sich dort bereits niedergelassen, da sie als erste das Schiff bestiegen haben, dann kamen aber die acht Lebous aus dem Dorf und wollten ihnen die Plätze streitig machen. Sie hätten diese schon früher bei Abdoulaye reserviert. Die nachfolgenden Passagiere versuchten erst gar nicht, auch dort Platz zu bekommen, so heftig ist der Streit entbrannt, einer hat sogar das Messer gezogen. Derart abgelenkt haben die Passagiere unsere Ankunft mit Abdoulaye gar nicht mitbekommen. Dieser verweist uns mit einer kurzen Handbewegung in den Bug, wo wir uns vor dem halb überdeckten Bereich einigermaßen einrichten können. Neben Coumba befindet sich ein großer Wasserbehälter, auf der anderen Seite ist sie durch mich geschützt. Sie ist die einzige Frau an Bord. Mein Nachbar auf der anderen Seite, ein junger Mann, schläft trotz des Lärms bereits tief und fest. Abdoulaye versucht den Streit zu schlichten – offenbar hat er für etwas kassiert, das er nun nicht erfüllen kann –, aber erst Badous Einschreiten und die Angst, der Lärm könnte zu viel Aufmerksamkeit erwecken, bringen wieder Ruhe.

      Badou wirft den Motor an. Nur sehr langsam kommen wir gegen die Flut voran. Ich höre, wie Coumba, die sich halb hinter mir versteckt hat, leise vor sich hin spricht, wohl eine Sure aus dem Koran. Bei all ihrer Weltoffenheit ist die Religion stets ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen, nie lässt sie ein Gebet ausfallen. Jetzt ist es offenbar aber die Angst, sie befindet sich schließlich überhaupt das erste Mal auf dem Meer, und das Auf und Ab des Bootes macht sich besonders im Bug bemerkbar. Hoch in die Luft und wieder hinunter wie auf der Hochschaubahn, jeder Aufprall im Wellental lässt das Boot erzittern. Die meisten anderen sind mit dem Element offensichtlich vertraut und rufen einander durch das Rauschen der Brandung Aufmunterungen und Scherzworte zu. Einige haben begonnen, aus ihrem Gepäck Proviant herauszuholen und verzehren mit Genuss wohl zum letzten Mal für längere Zeit frische mit Fischaufstrich gefüllte Weißbrote. Langsam wird es auch ruhiger. Der Mond ist untergegangen, und das Boot befindet sich mittlerweile schon weit von der Küste entfernt. Die Wellen werden kleiner und das Auf und Ab im Bug wird sanfter. Coumba ist eingeschlafen. Ich lege sie sacht neben mich und wickle sie in unsere gemeinsame Decke. Wir haben nur Platz für eine Decke, Coumba und ich müssen einander wärmen. In meiner Tasche finde ich einen geräucherten Fisch, verzehre ihn mit großem Appetit und fühle mich danach angenehm schläfrig. Ich krieche zu Coumba unter die Decke und suche den Schlaf. Auch die anderen sind zumeist schon eingeschlafen und träumen wohl davon, bereits auf Fuerteventura, beim großen Glück, angekommen zu sein. To sleep, to die … ab morgen kann alles anders sein.

      II

      Den afrikanischen Namen Mamadou hat mir Aziz gegeben. Aziz lebt von Wertkarten für Mobiltelefone, dort, wo die Corniche in Dakar nach links in das Plateau hineinbiegt und wo jeden Morgen der Verkehr zum Erliegen kommt. Manchmal stehen die Autokolonnen schon einige hundert Meter früher und die Straßenverkäufer müssen die Gunst des Morgenstaus rasch nutzen, um die verschiedensten Waren an den Mann, manchmal auch an die Frau zu bringen, denn wer nicht rasch genug handelt, wird von den wie aus dem Nichts auftauchenden Konkurrenten verdrängt. Sicherer ist das Geschäft jedenfalls vor der ersten Ampel des Boulevards, der das Plateau durchschneidet, wo man sich, aus der Weitläufigkeit der breiten Uferstraße kommend, plötzlich eingeengt fühlt und wo die Polizei öfters auch die Obdachlosen vertreibt.

      Zu diesen zählte auch ich, nachdem mein Visum abgelaufen und meine Geldreserven erschöpft waren. Das Visum war bereits mehrmals verlängert worden, da aber mein Aussehen immer mehr dem eines Clochards glich, verwies man mich bei der Fremdenpolizei des Büros. Man wolle arbeitende Ausländer oder Touristen im Land, keine europäischen Aussteiger und Sozialfälle. Würde ich das Land nicht vor Ablauf des Visums verlassen, hätte ich bald Gelegenheit, ein Gefängnis des Landes kennenzulernen. Diese Drohung nahm ich zwar nicht sehr ernst, denn noch nie war man hier eines Ausländers mit illegalem Aufenthalt habhaft geworden, aber allein die Vorstellung ließ mich erschauern, hatte ich doch Fotos gesehen von überbelegten Massenzellen, wo alle seitlich, in dieselbe Richtung gedreht, schlafen müssen. Mir fiel die Geschichte mit der genormten Gurkenkrümmung ein, dieser bekannten bürokratischen Überregulierung in Europa, die eine bessere Verpackungskapazität bewirken sollte.

      Nun war ich ein Illegaler in einem Land, das seinerseits selbst einige Illegale in meiner Heimat stellt. Meine Heimat – aber die gab es gar nicht mehr. Ich war von ihr in meiner Erinnerung durch ein dunstartiges Gebilde getrennt, eine Wolke, die mich nicht mehr erkennen ließ, woher ich kam. Und wohin ich wollte – ich wusste es noch weniger. Ich hatte damit aufgehört, über den Augenblick hinaus zu denken.

      Dass es eine diplomatische Vertretung meines mir nicht mehr präsenten Heimatlandes in dieser Stadt gab, war mir wegen dieser Wolke konsequenterweise ebenso wenig bewusst.

      Ich fing an, die Autokolonnen im Abendstau entlangzugehen und die Insassen um »ein Stück« (une pièce) anzubetteln. Une pièce, dabei handelte es sich um eine Geldmünze, die zwar einen dreistelligen Betrag aufwies, mit der man aber nur etwas mehr als ein halbes Weißbrot zu erstehen vermochte.

      Ich erinnere mich noch deutlich an die erstaunten Gesichter und die Frage, warum ein Toubab jetzt anfinge, die Schwarzen anzubetteln. Es gab auch einige weiße Autofahrer – in der Stadt ist eine nicht unbeträchtliche Zahl von Botschaften, internationalen Organisationen, Sekretariaten und sonstigen internationalen Hilfsvereinen angesiedelt, die meist über stattliche Geländeautos verfügen, auch von Weißen chauffiert –, die mich erstaunt, teils teilnahmsvoll, teils verächtlich behandelten. »Ein Weißer, der bei den Schwarzen bettelt – wir verlieren den letzten Rest unseres Ansehens«, hatte mir einmal ein vierschrötiger Typ mit Strohhut vom Volant aus zugerufen und den elektrischen Fensterheber betätigt.

      Aziz war am zweiten Tag auf mich aufmerksam geworden, als ich im dichten Verkehr fast unter die Räder gekommen wäre, nachdem ich von einem der ausladenden Außenspiegel umgerissen worden war. Zwei junge Burschen halfen mir auf und brachten mich an den Straßenrand in Sicherheit, ungeachtet des damit verbundenen Umsatzverlusts, denn an diesem Tag waren die Telefonwertkarten wegen einer Sonderaktion (100 Prozent plus!) besonders begehrt, und deren Erwerb hatte den Stau offenbar noch zusätzlich verstärkt. Ich lag neben einem der frisch gepflanzten Bäumchen, die das frühere Ödland zwischen der Corniche und dem Absturz hinunter zum Meer verzieren, seit sich die Stadtverwaltung im Angesicht der bevorstehenden Wahlen die Verschönerung der Küstenlandschaft auf die Fahne heften wollte.

      Aziz war Capo der Wertkartenverkäufer. Ein wohl zwei Meter großer Mann mittleren Alters, der etwa ein Dutzend junger Burschen zu koordinieren versuchte. Es blieb wohl beim Versuch, denn die Verkäufer waren alle selbstständig und rechneten direkt mit dem Mobilfunkbetreiber Orange ab. Dennoch lieferten sie Aziz einen Teil ihres bescheidenen Verkaufsgewinns ab, und er sorgte dafür, dass in seinem Abschnitt keine neuen Konkurrenten auftauchten. Als Bettler war ich kein Konkurrent, und so versuchte er auch nicht, mich zu vertreiben. Als er mich im dürftigen Schatten des jungen Bäumchens liegen sah, wurde er zu einem barmherzigen Samariter: »Was musst du dich auch zwischen den Autos herumdrängen, überlass das doch den Jungen – oder den ganz Alten, denen gibt man eher une pièce