Rückkehr nach Europa. Gerhard Deiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Deiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650103
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nicht ihre langen Wimpern zu küssen, ein derartiger Akt hätte an Bord wieder für Unruhe gesorgt. Aber sie wird ohnehin immer weniger die Frau, die ich begehre und die ich in meine Arme schließen möchte, sondern vielmehr entrückt, fast wie eine Göttin, die zu uns Irdischen in dieses Boot gestiegen ist, um uns mit ihrer Gegenwart zu beglücken. Während ihres Gesanges merke ich an manch verstohlenen Blicken der anderen Bootsinsassen, dass diese beginnen, Ähnliches zu empfinden.

      Als die Sonne hoch über dem Horizont steht, ruft einer der Guineer nach längerem Studium seiner Armbanduhr zum Mittagsgebet auf. Verunsichert ist seine Stimme, schließlich ist er es nicht gewohnt, einen Muezzin zu ersetzen. Doch hier gilt es, sich zu behelfen und selbst die Initiative zu ergreifen. Die anderen Guineer wechseln von der sitzenden in eine kniende Position und beten halblaut vor sich hin. Die übrigen Bootsinsassen schließen sich dem nicht an. Erst eine halbe Stunde später ruft ein kleiner Serer mit melodiöser Stimme zum Gebet, offenbar auf Wolof, um von allen verstanden zu werden, jedenfalls nicht auf Arabisch, dazu fehlt ihm wohl die Übung. Jetzt wären die Guineer an der Reihe, sich in ihren Gesprächen zurückzuhalten. Halblaut setzen sie ihre Konversation fort. Nach Ende des Gebets wird ihnen vorgeworfen, gestört zu haben. Wir selbst werden gar nicht wahrgenommen. Coumba hat bereits vor geraumer Zeit mit dem Singen aufgehört, da sie darüber eingeschlafen ist. Ich stelle mir vor, die Gebete werden an sie gerichtet.

      IV

      Coumba kannte ich noch nicht, als ich auf der Corniche zu betteln begann. Und was hätte sie auch dort gesucht – eine junge Frau mit einer festen Anstellung, die noch dazu am anderen Ende der Stadt wohnte. Ein eigenes Auto hatte sie auch nicht, da sie weder zu den wenigen begüterten Afrikanern zählt noch zu jenen, die sich schwer verschulden, um ein solches ihr Eigen nennen zu können, und sei es auch nur eines der üblichen betagten rostigen Erbschaften aus Europa – wie man ja hier auch sonst eine große Menge Abfall aus Europa erhält.

      Coumba wohnte an der Innenseite der wie ein Fischerhaken ins Meer geworfenen Dreiviertelinsel, die sich Dakar nennt, etwas nördlich des Hafens, dort, wo das Meer eine große Bucht mit nur schwachen Strömungen bildet, in die sich die Abwässer der Millionenstadt ergießen und nicht von heftigen Wogen und Strömungen wie an der Nordseite der Stadt weggespült werden, kurz: dort, wo das an feine Sandstrände grenzende Meer sich in eine stinkende Kloake verwandelt. Coumba ist nicht in Dakar aufgewachsen, sondern erst mit sechzehn Jahren aus einem Dorf im entlegenen Süden des Landes hierher zu ihrer Schwester gezogen. Diese ist mit einem Koch verheiratet, der das Glück hat, bei einem ausländischen Diplomaten angestellt zu sein, womit sein Gehalt das sonst übliche beträchtlich übersteigt. Coumba hat von ihrer Mutter das Schneiderhandwerk erlernt, nachdem sie mit vierzehn Jahren die Schule verlassen hat. Dieses in Dakar auszuüben, daran war anfangs nicht zu denken, sie sollte ja vor allem auf die kleinen Kinder ihrer Schwester aufpassen, die ihrerseits auch eine Beschäftigung beim Arbeitgeber ihres Mannes gefunden hatte. Doch nach und nach bekam Coumba wieder die Möglichkeit zum Schneidern, und da sie geschickt und voller Einfälle war, fand sie Arbeit in einer Schneiderwerkstatt unweit der Wohnung, sodass sie ihrerseits ein Mädchen bezahlen konnte, das die Kinderbeaufsichtigung übernahm. Dem Schwager war es anfangs nicht recht, dass sich seine Schwägerin aus ihrer familiären Pflicht wegstahl, noch dazu war das Kindermädchen eine Christin, deren religiösen Einfluss er als gläubiger Muslim fürchtete. Im Lauf der Zeit fand sich die Familie mit der neuen Situation zurecht, was auch dadurch erleichtert wurde, dass Coumba einen großen Teil ihres Lohns an Schwester und Schwager ablieferte und mit dem Rest ihren Ersatz bezahlte. Coumba verdiente sehr rasch besser als ihre Kolleginnen, so sehr war die Chefin vor ihrem Talent begeistert.

      Coumba hat mich kennengelernt, ohne dass ich sie bemerken konnte. An einem der schwülheißen Oktobertage, wenn die Luft stillsteht und wie ein dicker Wattebausch die Stadt umfangen hält – eine Beengung, der nur die wenigen glücklichen Besitzer von Klimaanlagen und Generatoren entgehen oder jene, die zumindest die Wächter der immer zahlreicher werdenden modernen Einkaufszentren täuschen, um sich in klimatisierte Hallen einschleichen zu können. Am 1. Oktober, daran erinnere ich mich genau, brach ich auf der Corniche zusammen, zwischen zwei wieder in Bewegung geratenden Autokolonnen. Die Autofenster waren wegen der Hitze meist geschlossen und wurden zum Almosengeben nicht geöffnet, zu lethargisch waren die Insassen selbst trotz der Klimaanlagen. Wie man mir später sagte, lag ich so, dass an mir kein Auto hätte vorbeifahren können. Bei aller Gleichgültigkeit und Erschöpfung wollte man mich aber doch nicht überfahren. So zog man mich an den Straßenrand und ließ mich dort liegen. Die Fahrbahn war wieder frei. Coumba verfolgte die Szene von einem Taxi aus einige Autos weiter hinten. Als schlussendlich ihr Taxi auch wieder hätte weiterfahren können, ließ sie es anhalten, was für einen neuen Stau und ungeduldiges Hupen sorgte. Sie stieg aus, sah mich in der prallen Sonne liegen und konnte den Taxifahrer überreden, ihr zu helfen und mich auf den Rücksitz zu ziehen, wo ich halb bewusstlos vor mich hin dämmerte.

      »Aber was fangen wir mit dem an, Mademoiselle, ich will nicht, dass jemand in meinem Taxi stirbt oder es verschmutzt«, protestierte der Fahrer zunächst. Coumba steckte ihm einen 5000-Franc-Schein zu und ließ mich zu der nächsten Klinik fahren. Diese war ein Privatinstitut, wo sich herausstellte, dass ihr Bargeld nicht reichte, um mir den Zutritt zu verschaffen. Schließlich überredete sie den Rezeptionisten, dem sie eine baldige Begleichung der Mindestsumme von 100.000 Franc versprach und dem sie ihr neues Smartphone als Sicherheit hinterließ. Der Arzt schob mich dann etwas widerwillig in eine Röhre, schlecht riechende und zerlumpte Patienten war er offenbar nicht gewohnt. Ich erwachte aus meinem Dämmerzustand, als ich draußen in einem der breiten Fauteuils des Eingangsbereichs lag. In ein Zimmer wollte man mich nicht geben, dazu reichten Coumbas Schmuckstücke, die sie ihnen anbot, nicht aus. Ich weiß nur noch, dass sich anfangs alles um mich herum drehte. Coumba wurde der Befund in die Hand gedrückt, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Der Arzt murmelte etwas von Blutung in der rechten Hirnhälfte, die man bald in Europa kontrollieren sollte, sonst könnte es schlecht enden.

      »Schicken Sie ihn heim, in Europa zahlt die Sozialversicherung ohnehin alles, so eine Operation können wir hier gar nicht durchführen.«

      Coumba drehte ratlos den Kopf zu mir. Da sah ich sie zum ersten Mal ohne den grauen Schleier von vorher. Sie hatte die Haare aufgesteckt, sodass ihre ebenmäßigen Gesichtszüge noch besser zur Geltung kamen. Richtige Zuneigung konnte ich in ihren Augen damals noch nicht erkennen, lediglich schieres Mitleid. Mit ihrer Hilfe konnte ich aufstehen und hinausgehen. Auch ihre Gesten und Bewegung drückten Mitleid aus, das mich wohlig umgab. Das Taxi hatte gewartet, wohl in der Hoffnung auf weiteren Fuhrlohn, denn dass ich nicht in der noblen Klinik verbleiben würde, war dem Fahrer wohl von Anfang an klar gewesen.

      »Wohin mit ihm?«

      Coumba zögerte etwas.

      »Zu Hause habe ich keinen Platz, ich bin selbst nur Bettgeherin bei meiner Schwester. Weißt du etwas?«

      Der Fahrer bot ihr an, mich gegen einen gewissen Betrag bei sich zu Hause schlafen zu lassen. Coumba musste ihm dafür als Sicherheit ihre Armbanduhr lassen. Wie sie mir später erzählte, sei sie von ihrer Familie mit Vorwürfen überhäuft worden, wie sie dazu käme, einem Europäer zu helfen. Almosen zu geben, ja, das sei zwar Pflicht jedes Muslims, doch das beschränke sich auf … ja, eben auf une pièce. Das neue Telefon und die Armbanduhr herzugeben, sei verrückt gewesen. Tatsächlich hat Coumba sie auch nicht mehr auslösen können, selbst als sie das nötige Geld zahlen wollte.

      Bei Madické, dem Taxifahrer, verbrachte ich fünf Tage. Täglich erschien Coumba abends nach ihrer Arbeit und brachte Essen. Es war wie in der Bibel, auch wenn ich nicht unter die Räuber geraten, sondern den Schwächen des eigenen Körpers erlegen war. Wie gerne wäre ich nach einem Tag schon wieder weggegangen, hinaus aus dem stickigen fensterlosen Raum, der immerhin Platz für zwei Schlafstätten hatte, aber die Beine versagten bei jedem Versuch nach einigen Schritten. Den Himmel sah ich nur, wenn ich mich zum Abort, einem Bretterverschlag draußen am Hof, schleppte. Sobald ich den Raum verließ, starrten mich alle neugierig an, sprachen mich aber, wohl von Madické über meine Lage informiert, nicht an. Von Coumba konnte ich bei ihren Besuchen wegen des Halbdunkels im Zimmer nicht viel erkennen. Anfangs war sie einsilbig, offenbar hatte sie Scheu, einem fremden Mann, der noch dazu halbnackt