Rückkehr nach Europa. Gerhard Deiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Deiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650103
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hervor. Er steht auf und macht einige Fotos vom Boot. Als er eine Nummer eintippt und sich wundert, keine Verbindung zu haben, lachen etliche.

      »Hier gibt’s keine Sendemasten, du musst dich gedulden. Vielleicht kannst du Radio hören.«

      Etwas verwirrt sucht der Junge nach seinen Kopfhörern und dann nach einem Sender. Er dürfte erfolgreich sein, auf einmal entspannt sich sein Gesicht und er wiegt sich im Rhythmus irgendwelcher von irgendwoher aufgefangenen Musik. Nach zwei Stunden wird er das Ganze enttäuscht wegstecken, wenn der Akku fast leer ist und ihm die prekäre Situation voll zu Bewusstsein gekommen sein wird. Abgesehen von der Djembe, die zu schlagen aber Badou fürs Erste verboten hat, bleibt nur das kleine Zupfinstrument, das einer der Serer bereits am Vormittag hat erklingen lassen, das aber kaum gegen das Motorengeräusch ankommt und bei stärkerem Wind wohl gänzlich im Streit der Elemente gegen den Yamaha-Motor, auf den sich all unsere Hoffnung richtet, untergehen wird. Tritt totale Stille an Bord ein, ist es um uns geschehen. Ich befühle erneut die Konturen meines Seesacks und spüre die Umrisse des kleinen Pakets, das mir Bill Hooper mitgegeben hat. Heute Nacht, wenn außer Badou alle anderen schlafen, werde ich davon Gebrauch machen, und wie einst Saint-Exupéry werde ich mit etwas da oben zwischen den Sternen verbunden sein.

      VI

      Als ich mich nach meiner Rekonvaleszenz kräftig genug fühlte, wollte ich meine frühere Tätigkeit auf der Corniche wieder aufnehmen. Gegen die Bettelei hatte sich allerdings in mir ein innerer Widerstand entwickelt, vielleicht auch, weil ich in den letzten Tagen so viel erhalten hatte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Ich fragte Aziz, ob er mir ein Kontingent von zu verkaufenden Wertmarken überlassen könnte. Er lehnte jedoch ab.

      »Du musst verstehen, Mamadou, ein weißer Wertmarkenverkäufer würde allen anderen das Geschäft wegnehmen, zu sensationell wäre es, dass ein Schwarzer einem Weißen etwas auf der Corniche abkaufen soll. Meine anderen Verkäufer kämen stark ins Hintertreffen, Proteste und Streitigkeiten wären die Folge. Nein, gleiche Wettbewerbsbedingungen müssen aufrechterhalten werden.«

      Ich fragte mich, ob Aziz einmal ein Wirtschaftsstudium begonnen hat, aber seine Begründung war einleuchtend. So kehrte ich etwas widerwillig zu meinem Bettlerdasein zurück. Ich suchte mir einen Standort am Boulevard de la République, der von höheren Häusern auf beiden Seiten eingesäumt wird und wo die Laubbäume mehr Schatten spenden als die kümmerlichen Palmen auf der Corniche. Allerdings warf man mir auch dort vor, als Weißer den zahlreichen anderen Bettlern die Almosen wegzunehmen. Anders als auf der Corniche leben die Bettler dort zum Teil sogar auf der Straße. Einige Kreuzungen sind Standorte von Rollstuhlfahrern, an anderen versuchen Gehbehinderte ihr Glück, zwischendurch Blinde, meist alte Männer, die von Kindern geführt werden. Und überall tauchen die Talibés auf, zerlumpte Kinder mit ihren leeren Konservendosen, deren Inhalt sie abends ihrem Koranlehrer abzuliefern haben.

      Alle verbündeten sich gegen mich. Am aggressivsten waren die Rollstuhlfahrer, die mich am ersten Tag bereits regelrecht einkreisten und bedrohten. Ohne Gebrechen hätte ich hier nichts zu suchen und als Weißer schon überhaupt nicht. Einige der sich auf Krücken vorwärts Bewegenden wollten, dass ich ihnen zumindest einen Teil meines Tageserlöses ablieferte. Und einmal kam ein Marabout vorbei, beschuldigte mich, dass seine Talibés meinetwegen mit leeren Dosen nach Hause kämen, und holte einen Polizisten (der früher ebenfalls einmal sein Schüler, und anders als viele der ausschließlich zum Betteln herangezogenen sogar ein richtiger Schüler gewesen war). Der hörte sich die Anschuldigungen an und tat, was Polizisten dort üblicherweise tun.

      »Pass, Aufenthaltsgenehmigung!« Beides hatte ich nicht bei mir, sie lagen in der Höhle. Dass ich eine Höhle auf der Corniche bewohnte, wagte ich nicht zu sagen, denn das ist im Allgemeinen strengstens verboten.

      »Na, dann muss ich dich mitnehmen, es sei denn …« Er streckte mir seine Hand mit einer unmissverständlichen Geste entgegen. Ich sah mich bereits in einem der hoffnungslos überfüllten Gefängnisse wieder und gab ihm alles, was ich an Bargeld bei mir hatte. Der Polizist nickte zufrieden, gab gleich einen Teil dem Marabout weiter und sagte: »Wehe, ich sehe dich hier wieder, dann landest du im Loch!«

      An jenem Abend, als ich ratlos und hungrig zu meiner Höhle zurückkehrte und die Corniche zum Meer hin überquerte, überfiel mich eine so große Leere, dass ich meinte, ein Sturz vom Felsen herab wäre das Beste, was mir passieren könnte. Ich ging zum Absturz vor, stellte aber fest, dass ein derartiger Sprung nicht unbedingt tödlich ausgehen müsse, zu niedrig war der Felsen und von etlichen Vorsprüngen zergliedert. Kein glatter Tod.

      Während ich so dastand, war wie aus dem Nichts plötzlich Coumba hinter mich getreten, in Begleitung von Aziz, der ja über alles, was sich auf diesem Teil der Corniche und auf dem angrenzenden Teil des Boulevards abspielt, bestens Bescheid weiß. Er ließ uns aber gleich allein und zog sich zurück, uns etwas zweideutig eine gute Nacht wünschend.

      Plötzlich war alles anders. Vergessen waren die Absichten von eben, Hunger und das Gefühl totaler Leere. Ich ergriff ihre Hände und suchte ihr Gesicht im Dunkel. Ihre Augen waren offensichtlich zuerst etwas scheu zu Boden gerichtet, dann glänzten sie mir entgegen, als würden zwei Sonnen gleichzeitig aufsteigen.

      Wortlos stiegen wir zu meiner Höhle hinab, wortlos legten wir uns auf meine Matte und ließen unsere Körper ineinander übergehen. Das Meer rauschte wohl heftiger als sonst, nicht nur hatte die Flut eingesetzt, sondern draußen auch ein Sturm, der die Wellen der Brandung bis zur Höhle aufspritzen ließ.

      Doch nachdem wir einander zum wiederholten Mal umarmt hatten, wurde mir mit einem Mal schwarz vor Augen. Gerade noch konnte ich Coumba bitten, mir etwas zu trinken zu beschaffen, dann trat ich weg, ab in die schwarze Zwischenwelt. Ein kleiner Tod, nicht der petit mort als Nachklang eines besonders vollkommenen Liebesakts, der hauptsächlich dem anderen Geschlecht beschieden ist, nein, ein simpler Rückfall, wenngleich auch nicht so heftig wie vor ein paar Tagen, als ich in die Klinik eingeliefert wurde. Dank Coumbas gutem Zureden, es war mehr ein beschwörendes Murmeln, und einer Flasche Wasser, die sie mir einflößte, kehrte ich wieder zurück.

      »Coumba, die Zauberin, die Verzauberin«, murmelte ich leise. Sie lächelte und legte ihre Hand auf meine Lippen. In jener Nacht nahm sie mir das Versprechen ab, dass ich mich gleich am nächsten Tag an die Behörden meines Heimatstaates wenden würde, um deren Hilfe zu erbitten.

      Dieses Versprechen war mir wie ein Wermutstropfen, der die Erinnerung an unsere erste gemeinsame Nacht am nächsten Morgen verbitterte. Coumba war nicht mehr da, sie hatte angekündigt, noch in der Nacht in das Haus ihrer Schwester zurückkehren zu müssen, da man sonst über sie reden würde. Widerwillig schlüpfte ich in meine zerrissenen europäischen Kleider.

      Der Zugang zur Botschaft wurde von zwei Uniformierten einer der hier üblichen Bewachungsfirmen kontrolliert. Ich bin zwar ein Weißer, aber mein ungepflegtes Äußeres hatte diesen Vorteil wieder zunichtegemacht. Man verweigerte mir den Eintritt. Ich wurde laut, was wiederum die Aufmerksamkeit eines Anzugträgers weckte, der gerade mit einer Limousine samt Landesflagge vorfuhr und offenbar erwartet wurde, da man ihm bereitwillig den Eingang öffnete. Ich nutzte diese Gelegenheit und schlüpfte hinter ihm in das Gebäude. Ein weißer Polizist, offenbar ein Landsmann von mir, hielt mich auf. Er sprach mich gleich in meiner Muttersprache an – offensichtlich war er des Französischen nicht mächtig –, und das mit einer starken dialektalen Färbung.

      Mir war es unangenehm, in meiner Muttersprache reden zu müssen. So lange war es her, als ich sie das letzte Mal verwendet hatte. Zunächst sprach ich wohl in einer Mischung aus Französisch und Deutsch, was bei dem Polizisten für Misstrauen sorgte, denn der Eingang, durch den ich hineingeschlüpft war, sei nur für Landsleute bestimmt, wie er mir sehr amtlich erklärte. Aber nach einigen Sätzen meinerseits war sein Misstrauen zerstreut, er nahm meine Personalien auf und meldete mich beim »Herrn Konsul« an.

      Im Raum, in dem ich wartete, blickte mich stumm ein Gesicht auf einem Porträtfoto an, wohl jenes unseres aktuellen Staatschefs, denn ich kannte diesen weder vom Namen noch vom Aussehen her. Er sah nicht streng aus, sondern hatte ein liebenswürdiges verbindliches Lächeln aufgesetzt, wie es die Berater heutzutage wohl allen Politikern empfehlen,