Neben Formen, die sich eindeutig als Szene-Graffitis fassen lassen, finden sich Formen, die etwa in der formal-ästhetischen Ausführung, in ihrer Semantik oder in ihrer Platzierung untypisch sind. Diskussionen und Darstellungen in szenenahen Printmedien oder im Internet zeigen, dass auch die Graffiti-Szene selbst fortlaufend diskursiv klären muss, was als Graffiti gelten kann. (2016: 88f.)
Der Übergang zu weiteren Formen öffentlicher, unautorisierter Schriftlichkeit ist dementsprechend fließend. In diesem Kapitel soll es daher darum gehen, das Szenegraffiti mit seinen besonderen Eigenschaften zu beschreiben und so den Blick für diese Formen zu schärfen, bevor der Fokus der Betrachtung in den nächsten Kapiteln auf die Namen im Szenegraffiti gesetzt wird.
2.1 Eine Bestandsaufnahme
Die folgenden Ausführungen beleuchten das Szenegraffiti aus einer linguistischen Perspektive. Bei dieser „Bestandsaufnahme“ werden daher insbesondere die Ergebnisse der bisherigen linguistischen Graffitiforschung berücksichtigt, die sich auf Forschungsfelder wie die Linguistic-Landscape-Forschung, die Schriftbildlichkeitsforschung und die Geosemiotik verteilen. Ziel dieser Vorgehensweise ist eine erste Annäherung an den facettenreichen Untersuchungsgegenstand Graffiti sowie eine Erarbeitung der zentralen Eigenschaften dieses Phänomenbereichs.
2.1.1 Bild und Schrift
Graffitis stehen in einem interessanten Spannungsfeld aus Bildlichkeit und Schriftlichkeit (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 194). Im Gegensatz zu anderen Formen ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit, die in der Regel maschinell gedruckt und auf Lesbarkeit ausgerichtet sind, zeichnen sich Graffitis dadurch aus, dass schriftliche und bildliche Elemente untrennbar miteinander verbunden sind. Nicht selten geschieht dies auch auf Kosten der Lesbarkeit. Graffitis als „handwerklich gediegene Unikate mit künstlerischem Anspruch“ bilden damit einen starken Kontrast zum „typographischen und normierten Charakter [autorisierter] öffentlicher Schriftlichkeit“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 193).
Die Verbindung von Bild und Sprache ist für die Sehgewohnheiten des 21. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches: Während öffentliche, visuelle Kommunikation im 19. Jahrhundert – und in einigen Bereichen wie etwa Schule und Hochschule bis fast in die Gegenwart – noch primär über Texte ohne Bilder erfolgte, werden Schrift und Bild heute auf vielfältige Weise miteinander verknüpft (SCHMITZ 2011: 25). Auf Werbeplakaten, in Zeitungen, auf Straßenschildern etc. stehen schriftliche und bildliche Elemente in der Regel nicht unabhängig nebeneinander, sondern stellen eine Bedeutungseinheit dar, bilden also „Sehflächen“ (SCHMITZ 2011: 25).1 Nach SCHMITZ sind diese Sehflächen in der öffentlichen visuellen Kommunikation zum „unauffällige[n] Standard“ geworden (SCHMITZ 2011: 24). Graffitis unterscheiden sich von anderen multimodalen Formen jedoch dadurch, dass Bild und Schrift nicht nur nebeneinanderstehen und semiotisch zusammenwirken, sondern in einer Form vereint sind. Es handelt sich somit um Hybridformen mit sowohl schriftlichen als auch bildlichen Eigenschaften. PAPENBROCK UND TOPHINKE bezeichnen Graffitis daher auch als „Formen des Andersschreibens im Schnittbereich von Schrift und Kunst“ (2012: 179).
Dass es sich bei Szenegraffitis um Schrift handelt, lässt sich daran festmachen, dass es sich bei den gesprühten Werken im weitesten Sinn um Wörter handelt. Die Buchstaben der Wörter werden allerdings gedreht, verformt und verfremdet. Weil dabei die „typographischen Normen“ außer Acht gelassen werden, ist Graffiti in der Literatur sogar als „Befreiung der Schrift“ (LEISS UND LEISS 1997: 21) bezeichnet worden. Die Buchstabenformen werden von den Akteuren aber in der Regel nicht vollständig aufgelöst. Sie sind zumindest für Szenekundige erkennbar. Die Schrift bleibt damit auch bei einem hohen Verfremdungsgrad der Buchstaben als „zugrundeliegendes, strukturgebendes Repräsentationsmodell“ erhalten (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 187). Buchstaben bilden im Szenegraffiti gewissermaßen die Schnittstelle zwischen Schrift und Bild: Als Grapheme korrespondieren sie mit Phonemen und können – wenn sie zu Morphemen kombiniert werden – Bedeutungen übertragen, gleichzeitig stellen sie jedoch auch figürliche Elemente mit jeweils ganz eigenen Formmerkmalen dar (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 186f.).
Dass Graffitis im Bereich der Schriftlichkeit zu verorten sind, wird auch deutlich, wenn man ihren Entstehungsvorgang in den Blick nimmt. Denn das Herstellen von Graffitis kann im weitesten Sinn als handschriftlicher Schreibprozess bezeichnet werden. TOPHINKE weist allerdings darauf hin, dass sich das Graffitiwriting in seiner Bewegungsdynamik von anderen handschriftlichen Praktiken unterscheidet (2016: 415). Erstens wird bei der Herstellung von Graffitis nicht nur die Hand, sondern der ganze Körper eingebunden (TOPHINKE 2016: 415; vgl. dazu auch Abschnitt 2.3 zur Szene) – NEEF spricht daher auch von „Körperschrift“ anstelle von Handschrift (2008: 314). Zweitens erfolgt bei den bildlich komplexeren Werken kein linearer Schreibvorgang von links nach rechts, sondern eine schrittweise Überarbeitung mit verschiedenen Farbschichten, was an die Herstellung eines Bildes erinnert (TOPHINKE 2016: 415). So erfordert es etwa „repetitive Bewegungen“, um flächige Buchstaben zu schraffieren (NEEF 2008: 315). In der Szene selbst wird der Herstellungsprozess von Graffitis jedoch überwiegend als Schreiben verstanden, was sich an der verwendeten Terminologie erkennen lässt. Die Selbstreferenz der Akteure erfolgt mit der Bezeichnung Writer, was den Bezug zur Schrift betont (BOWEN 1999: 24).2
Die besondere bildliche Ästhetik der Graffiti-Formen ergibt sich u.a. dadurch, dass die Buchstaben stilisiert, d.h. graffititypisch modelliert und verfremdet werden. „Man kann sich viel erlauben“, sagt der Berliner Writer ODEM über die Schriftgestaltung im Graffiti. „Man kann die Buchstaben überlappen lassen oder schrägstellen […] oder ineinander verschwinden lassen und die Balken kürzer oder länger ziehen (=mehr Bewegung!)“ (ODEM 1994: 20). Im besten Fall bilden die Akteure einen individuellen Style aus. Häufig werden auch dekorative Elemente wie Pfeile, Schnörkel und Linien integriert oder besondere Farbübergänge und -kontraste gewählt, um das Graffiti möglichst individuell zu gestalten. Somit lässt sich sagen, dass zwar prinzipiell jede Form von Schrift eine gewisse Bildlichkeit – eine „Schriftbildlichkeit“ (GRUBE ET AL. (Hg.) 2005, KRÄMER ET AL. (Hg.) 2012) – aufweist, dass die Bildlichkeit der Graffitis jedoch eine besondere ist. Graffitis werden daher in der Linguistik auch als „besonders interessante Formen der Eigenständigkeit und bildlichen Ästhetik von Schrift“ (STÖCKL 2011a: 71) betrachtet.
Dass das Thema Schriftgestaltung für die Graffitiszene von zentraler Bedeutung ist, zeigt sich auch daran, dass Style eines der Schlüsselwörter der Szenekommunikation ist. Style hat dabei verschiedene Bedeutungen: Es steht für den persönlichen Stil eines Writers, aber auch für die Grundstilrichtungen, die sich seit den Anfängen der Szene herausgebildet haben.3 Zudem kann Style auch metonymisch verwendet werden und auf ein stilvolles Graffiti referieren (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 94). Nach WACŁAWEK ist Style in der Graffitiszene sogar „gleichbedeutend mit Können und untrennbar mit dem Namen verbunden” (2012: 44). Der Writer ODEM plädiert daher sogar dafür, nicht von Graffiti oder Aerosol-Art zu sprechen, sondern stattdessen von „Stylism“, abgeleitet von Style (ODEM 1994: 21). An diesen Ausführungen zeigt sich bereits, dass im Szenegraffiti insbesondere die visuelle Gestaltung von Schrift – und nicht primär ihre begriffssprachliche Bedeutung – relevant ist.
2.1.2 Intransparent
Die Stilisierung der Buchstaben kann sich auf die Lesbarkeit der Graffitis auswirken. Wenn die Schrift stark verfremdet ist, können szeneexterne Rezipienten, die keinen geschulten Blick für das kreative Spiel mit den Farben und Formen entwickelt haben, die Buchstaben nicht erkennen (VAN TREECK 2003: 103). Zwar gibt es durchaus Graffitis (im weiteren Sinn), die sich auch für szeneexterne Betrachter als bedeutungsvolle Zeichen zu erkennen geben. Als Beispiele sind hier Parolen (z.B. von Fußballfans), Appelle, Zitate und auch politische Botschaften zu nennen, die sich „explizit an die Öffentlichkeit richten“