Eine eher theoretisch orientierte Auseinandersetzung mit Pseudonymen findet sich in der 1996 erschienenen Dissertation „Eigennamen und Recht“ von SEUTTER. In dieser interdisziplinären Arbeit stellt die Autorin eine theoretische Betrachtung der Pseudonyme aus linguistischer und aus juristischer Perspektive an. In ihrer Publikation macht SEUTTER etwa darauf aufmerksam, dass sich das sprachwissenschaftliche und juristische Verständnis von Namen nicht problemlos vereinen lassen. Diese Unstimmigkeit bezieht sich auf die These der Inhaltslosigkeit der Namen:
In manchen Rechtsbereichen wie z.B. dem Wettbewerbsrecht übernehmen Namen nicht nur identifizierende, sondern auch charakterisierende Funktionen. […] In der Namenkunde hingegen versteht man unter Namen sprachliche Zeichen, die in einem initialen Namengebungsakt mit einer bestimmten Entität verbunden werden, ohne daß sie über diese eine inhaltliche Aussage machen. […] Der onomastische Namenbegriff muß ausgehend von Ergebnissen des namenrechtlichen Bereichs differenziert werden: Auf der sprachsystematischen Ebene funktionieren Eigennamen prinzipiell, ohne lexikalischen Inhalt zu transportieren, auf der Gebrauchsebene können Namen aber durchaus charakterisierende Elemente aufweisen. (SEUTTER 1996: 222)
Interessanterweise wird damit bereits ein Aspekt der Namentheorie ausgemacht, der auch in aktuellen onomastischen Publikationen immer wieder aufgegriffen und kritisch betrachtet wird. In der vorliegenden Arbeit wird die These von der Inhaltslosigkeit der Namen – wie noch zu zeigen ist – ebenfalls diskutiert.
Mitte der 90er-Jahre setzt die Erforschung eines weiteren Pseudonymentyps ein: Die Internetpseudonymie. Eine wichtige Rolle kommt BECHAR-ISRAELI zu, die 1995 ein Korpus aus 260 Internetpseudonymen zusammenstellt und eine erste inhaltliche und formale Kategorisierung dieser Namenart vornimmt. Sie stellt dabei beispielsweise – unter Bezugnahme auf das Tierreich – die nahezu paradox anmutende Doppelfunktion von Internetpseudonymen heraus, wonach der Nickname Aufmerksamkeit weckt (wie die Federn eines Pfaus), den Träger aber gleichzeitig auch verdeckt (wie ein Chamäleon) (BECHAR-ISRAELI 1995). Interessanterweise geht BECHAR-ISRAELI in diesem Text auch bereits auf Graffitinamen als Pseudonyme ein.
Eine umfassende Darstellung des Themenkomplexes Chatpseudonymie liefern RUNKEHL ET AL. (1998). Die Autoren erläutern die Funktion der Pseudonyme und nehmen eine Klassifizierung nach semantischen Feldern vor (1998: 72–114). Weitere Aufsätze zur Internetpseudonymie, in denen Formen und Funktionen dieser Namenart herausgearbeitet werden, stammen von ZIEGLER (2004), JOHNOVÁ (2004) und STOMMEL (2007).5 HEISLER UND CRABILL (2006) forschen zur Wahrnehmung von Email-Pseudonymen. Umfassende Publikationen jüngeren Datums stammen von WOCHELE (2012) und JANSEN (2012). WOCHELE untersucht Nicknamen in einem sozialen Netzwerk und analysiert diese auf graphischer, morphologischer, syntaktischer und semantischer Ebene (2012: 36ff.). JANSEN, deren Aufsatz im gleichen Sammelband („Sprache und Öffentlichkeit in realen und virtuellen Räumen“ hg. v. GERSTENBERG ET AL.) erscheint, eruiert anhand der Nicknamen, die auf einer französischsprachigen Kontaktseite verwendet werden, primär die Funktionen von Internetpseudonymen (2012: 5ff.).
Zuletzt seien noch zwei Publikationen neueren Datums genannt, in denen die namentheoretische Einordnung von Pseudonymen im Vordergrund steht. Hier ist zum einen der Aufsatz „Familiennamen und Pseudonyme“ (2009) von GLÄSER und zum anderen der Beitrag „Pseudonyms“ von ALEKSIEJUK im „Handbook of Names and Naming“ (HOUGH (Hg.) 2016b) zu nennen. GLÄSERS Essay ist für die Pseudonymenforschung bedeutsam, weil GLÄSER einige allgemeine terminologische Klärungen vornimmt und dabei auch eine Definition der Bezeichnung Pseudonym entwickelt, die in anderen onomastischen Arbeiten übernommen wird (2009: 509).6 GLÄSER liefert außerdem einen Überblick zu den Funktionen und Strukturen der unterschiedlichen Pseudonymentypen (2009: 510ff.). Die Publikation von ALEKSIEJUK nimmt alle Subtypen des Pseudonyms, d.h. Deck- und Tarnnamen, Künstlernamen sowie Internetpseudonyme7, gesammelt in den Blick und systematisiert diese. Ältere Publikationen haben demgegenüber in der Regel lediglich einen Untertyp der Pseudonyme thematisiert. Neben den hier genannten Arbeiten gibt es meines Wissens keine weiteren aktuellen Veröffentlichungen zu einer allgemeinen Typologie der Pseudonyme.
Wie dieser Forschungsüberblick zeigt, beschränken sich empirische Arbeiten, die auf der Grundlage eines repräsentativen Materialkorpus entstehen, fast ausschließlich auf den Bereich der Internetpseudonymie. Arbeiten zu anderen Pseudonymentypen – wie die Untersuchungen von KÜHN (1993, 1995, 2004) zu den Tarnnamen – können nur entstehen, wenn Pseudonyme als solche erkannt und zudem in großer Zahl erfasst werden. Das Projekt INGRID ermöglicht somit – indem es ein umfassendes Korpus an Graffitinamen bereitstellt – die systematische Beschreibung eines weiteren pseudonymischen Subtyps.
2. Graffiti
Die Bezeichnung Graffiti wird im alltäglichen und auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch für die Bezugnahme auf ganz verschiedene Erscheinungsformen verwendet. Als Graffitis werden nicht nur die bunten Inschriften im urbanen Raum bezeichnet, sondern beispielsweise auch Äußerungen an den Wänden von Toilettenkabinen (FISCHER 2009) und Gefängnissen (HESSE 1979) sowie informelle Schüleräußerungen (BLUME 1980, 1981) und politische Parolen an Hauswänden (STAHL 1989: 22ff.). Gemeinsam haben alle diese Formen, dass es sich um Schrift handelt und dass diese unautorisiert im (mehr oder weniger) öffentlichen Raum angebracht wird. Darüber hinaus sind die Formen ortsfest (TOPHINKE 2017: 168), d.h., sie verbleiben am Ort ihrer Entstehung und können nicht – wie beispielsweise eine Notiz auf einem Blatt Papier – von diesem Ort entfernt werden.1
Im öffentlichen Raum sind Graffitis von einer Fülle an weiteren schriftlichen Formen umgeben, z.B. von Verkehrsschildern, Werbeplakaten, Ladenschildern etc., die ebenfalls in ihrer Materialität mit dem Untergrund verbunden sind. Nach AUER besteht eine wesentliche Eigenschaft der Kommunikation durch öffentliche, ortsgebundene Schriftlichkeit darin, „Räume les- und damit nutzbar [zu machen], die nicht durch das routinemäßige Zusammenleben Ortskundiger gekennzeichnet sind“ (2010: 274). Straßenschilder und Ladenschilder erleichtern beispielsweise die Orientierung im Raum; Verbotsschilder kommunizieren das Unterlassen bestimmter Handlungen. Die öffentliche Schrift zeigt den Rezipienten also Handlungsoptionen im öffentlichen Raum auf (AUER 2010: 275). Darüber hinaus macht sie es möglich, dass ein Zeichenproduzent etwas an einen größeren Rezipientenkreis kommunizieren kann, ohne dass dabei Produzent und Rezipient von Angesicht zu Angesicht aufeinandertreffen; sie „ersetzt damit Formen der face-to-face-Kommunikation“ (AUER 2010: 275, Hervorh. i.O.).
Graffitis unterscheiden sich von diesen anderen Formen ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit in vielerlei Hinsicht. Sie dienen – anders als Straßenschilder, Häusernamen etc. – nicht dazu, den öffentlichen Raum für Rezipienten besser interpretierbar und nutzbar zu machen, und ersetzen auch nicht Formen der face-to-face-Kommunikation. Für Graffitis ist es im Gegenteil sogar wichtig, dass der Schreiber anonym bleibt, Produzent und Rezipient also nicht aufeinandertreffen.
Das Szenegraffiti, das in dieser Arbeit in den Blick genommen wird, unterscheidet sich von anderen schriftlichen Formen im öffentlichen Raum auch durch die Bindung an eine soziale Gruppe – die Graffitiszene. Es ist sozial fundiert, weil es eine Gruppe gibt, die Graffitiwriting als „Praktik“ (TOPHINKE 2016) erkennt und diese auch selbst ausübt. Praktiken können „als Typiken des körperlichen Tuns […], die Wiederholung, Wiedererkennen und auch Erlernbarkeit ermöglichen“ gefasst werden (TOPHINKE 2016: 406). Sie bilden sich in der Regel dann heraus, wenn „das Wiederholen bzw. Wiederauftreten des betreffenden körperlichen Tuns in dem jeweiligen sozialen Bezugsrahmen Relevanz besitzt“ (TOPHINKE 2016: 407). Graffitiwriting stellt demzufolge eine soziale Praktik dar, weil es für die Szenemitglieder Relevanz besitzt, indem sie die Formen dieser Art erkennen und deuten können.
An diesen Überlegungen zeigt sich bereits, dass zwischen einem engen und einem weiten Graffitibegriff zu unterscheiden ist. Das Szenegraffiti ist dabei als eigener Typ ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit zu perspektivieren, den es von anderen Formen, die gemeinhin als Graffiti bezeichnet werden, abzugrenzen gilt. Bei einem engen Begriffsverständnis werden dementsprechend nur diejenigen Formen erfasst, die sich erkennbar an den stilistischen