Graffitis sind in den letzten Jahren auch vermehrt in ihrer besonderen Bildlichkeit, also ihrer Verbindung aus schriftlichen und bildlichen Elementen, wahrgenommen worden, z.B. bei MEIER (2007), METTEN (2011), PAPENBROCK UND TOPHINKE (2012, 2014, 2016) und TOPHINKE (2016, 2017). Sie werden dabei als „Formen des Andersschreibens im Schnittbereich von Schrift und Kunst“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 179) betrachtet und die besondere Wirkung, die sich aus dem Zusammenspiel schriftlicher und bildlicher Eigenschaften ergibt, beschrieben. Diese Perspektive auf Graffitis bildet sich im Rahmen eines zunehmenden Interesses der Linguistik an den bildlichen Eigenschaften der Schrift heraus. Mit der Beobachtung, dass die Gestaltung bzw. die Bildlichkeit eines Textes dessen Interpretation beeinflussen kann, Schriftgestaltung also durchaus über ein Bedeutungspotenzial verfügt, rückten auch Graffitis in das Blickfeld der Forschung.
TOPHINKE (2016) nimmt Graffitis außerdem in einer praxistheoretischen Perspektive in den Blick. Sie zeigt auf, dass das Herstellen von Graffitis eine sozial fundierte Praktik ist und die Graffitis selbst als Artefakte dieser Praktik betrachtet werden können. Durch diese Perspektive zeigt sich, dass sich viele Merkmale der Graffitis aus den sozialen und körperlich-handwerklichen Bedingungen ihrer Herstellung ergeben. Als Schriftlichkeit, die an eine soziale Gruppe und an eine Praktik gebunden ist, werden Graffitis auch in den Aufsätzen von PAPENBROCK, RADTKE und WACHENDORFF ET AL. betrachtet, die im Sammelband „Graffiti: Deutschsprachige Auf- und Inschriften in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive“ (2017) erschienen sind.
Zuletzt sind Graffitis auch in ihrer besonderen, minimalen Grammatik in den Blick geraten (vgl. dazu TOPHINKE 2017 und TOPHINKE im Erscheinen). Dies knüpft an Überlegungen von HENNIG an, die in ihrem Aufsatz „Grammatik multicodal“ Schriftlichkeit auf Schildern in den Blick nimmt und feststellt, dass bei der Beschreibung dieser Schriftlichkeit „ein Grammatikbegriff benötigt wird, der sich nicht auf die verbale Codierung beschränkt“ und stattdessen die Interaktion der Schriftsprachlichkeit mit weiteren Zeichensystemen berücksichtigt (2010: 74). TOPHINKE stellt in ihrem Aufsatz „Minimalismus als Konzept“ (2017) heraus, dass bei Formen minimaler Schriftlichkeit, zu denen auch Graffitis gehören, ebenfalls verschiedene Ressourcen (wie die lexikalische Bedeutungen, die schriftbildlichen Eigenschaften und die Platzierung) zusammenwirken (164f.). Im Aufsatz „Graffiti-Writings als Kommunikate des Urbanen“ (2019) thematisiert TOPHINKE gezielt die Wirkungen, die sich aus den schriftbildlichen Eigenschaften der Graffitis ergeben.
1.3.3 Pseudonyme als Forschungsgegenstand der Onomastik
Pseudonyme sind „eine Untergruppe der Personennamen (Anthroponyme) und […] damit in erster Linie Untersuchungsgegenstand der Onomastik“ (GLÄSER 2009: 503, Hervorh. i.O.). Die Onomastik nimmt Pseudonyme jedoch erst vergleichsweise spät, etwa seit den 70er-Jahren, in den Blick. Andere Disziplinen wie zum Beispiel die Theologie, Philosophie, Philologie, Literaturwissenschaft und die Rechtswissenschaft entwickeln bereits weitaus früher ein wissenschaftliches Interesse an den „falschen Namen“, was sich mit der zunehmenden Bedeutung von Autorenschaft und Bibliographien erklären lässt (ALEKSIEJUK 2016: 444f.). Bei ALEKSIEJUK ist in einem kurzen Überblick zur Pseudonymenforschung zu lesen, dass der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Anonymen und Pseudonymen oft auf das Erscheinen der Monographie „De nominum mutatione et anonymis scriptoribus“ im Jahr 1669 datiert wird (ALEKSIEJUK 2016: 445). In dieser Publikation diskutiert der deutsche Rechtswissenschaftler GEISSLER rechtliche und historische Aspekte des Namenwechsels.1
Das Interesse der Onomastik lag seit ihrer Entstehung als wissenschaftlich fundierte Namenkunde zu Beginn des 19. Jahrhunderts lange Zeit primär auf Personennamen und Ortsnamen.2 Das Forschungsinteresse bezog sich dabei insbesondere auf die etymologische Bedeutung von Namen. Erst in den 70er-Jahren wendet sich die Namenforschung zunehmend neuen Themen zu, z.B. den Prinzipien, nach denen die Rufnamenvergabe erfolgt (SEUTTER 1996: 9). Damit stehen allerdings nach wie vor Ruf- und Familiennamen im Zentrum der Forschung, während inoffizielle Personennamen wie Spitznamen und Pseudonyme kaum beachtet werden. In der onomastischen Literatur der 70er-Jahre finden sich lediglich einzelne Beiträge, in denen das Thema am Rande erwähnt wird.3 In den 80er- und 90er-Jahren entstehen außerdem umfangreiche Pseudonymenlexika (BARTHEL 1986, MOSSMANN 1987, WEIGAND 1994, EYMER 1997). Dies zeugt zwar von einem großen Interesse an den Namen und der Zuordnung zu ihren Trägern, eine umfassende theoretische Beschreibung und eine systematische Untersuchung dieser Namenart findet allerdings nicht statt. SEUTTER konstatierte noch 1996 dass „[z]ahlreiche Gruppen des deutschen Namensystems wie beispielsweise die Pseudonyme […] noch nicht erforscht“ sind (1996: 9).
Dass das Thema Pseudonymie in der linguistischen Namenforschung bislang eine marginale Position einnimmt, zeigt sich auch daran, dass es in wichtigen Referenzwerken der Onomastik kaum Erwähnung findet.4 Im 1995/1996 erschienenen „Handbuch zur Onomastik“ (EICHLER ET AL. (Hg.)) gibt es beispielsweise nur einen ausgewiesenen Beitrag zu Pseudonymen, in dem die rechtlichen Grundlagen beschrieben werden (SCHWENZER UND MENNE 1996), sowie ein Aufsatz zu Tarnnamen (KÜHN 1995). In anderen Aufsätzen des Handbuches wird diese Namenart nur am Rande aufgegriffen. BAUER, der mit „Deutsche Namenkunde“ 1998 ein umfassendes Werk mit vielen Literaturhinweisen veröffentlicht, erwähnt Pseudonyme nur in einem Satz (54). Auch in den onomastischen Einführungswerken sind nur wenige Informationen zu finden. KOSS (2002: 167–176) weist in seiner Einführung zwar ein Kapitel mit dem Titel „Dramenhelden, Kosenamen, Pseudonyme: erfundene Namen“ aus, er geht in diesem Kapitel jedoch kaum auf Pseudonyme ein und nimmt stattdessen primär literarische Namen und Spitznamen in den Blick. GLÄSER kritisiert daher noch 2009, dass „sowohl strukturelle als auch funktionale Darstellungen der Pseudonyme auf der Grundlage eines repräsentativen Materialkorpus“ fehlen und spricht von einem „offensichtliche[n] Defizit der onomastischen Forschung“ (506). Auch in aktuellen Einführungen in die Onomastik nimmt das Thema wenig Raum ein: NÜBLING ET AL. (2015: 178–180) sowie DEBUS (2012: 133–134) widmen den Pseudonymen jeweils zwei Seiten und verweisen ausdrücklich auf die diesbezüglich bestehende Forschungslücke.
Die wenigen onomastischen Publikationen, die sich dem Thema Pseudonymie widmen, werden im Folgenden chronologisch vorgestellt. Zunächst ist dabei auf die Monographie „Die Personennamen im Deutschen“ ([1982], 2008) von SEIBICKE zu verweisen, die ein Einführungswerk in die Personennamenforschung darstellt. In dieser Publikation von 1982 setzt sich der Autor nicht nur mit Ruf- und Familiennamen, sondern – auf der Basis der Pseudonyme, die er verschiedenen Pseudonymenlexika entnimmt – auch mit Pseudonymen auseinander. Er widmet diesem Thema dabei ein eigenes, mit 14 Seiten im Gegensatz zu späteren Einführungen in die Namenforschung verhältnismäßig umfassendes Kapitel. In diesem Kapitel stellt SEIBICKE namentheoretische Überlegungen an (z.B. zur Abgrenzung von Pseudonym und Namenänderung), geht auf typische Personenkreise, die unter einem Pseudonym agieren, sowie auf deren Motive ein. Darüber hinaus findet sich in diesem Kapitel eine Typologie der Bildungsweisen von Pseudonymen, die von anderen Autoren übernommen wird (z.B. von SEUTTER (1996: 94), die sich auf SEIBICKE bezieht und sagt, dass er „sich als einer der wenigen Onomastiker mit der Bildung von Pseudonymen auseinandergesetzt“ hat).
Als weitere Publikation, die die Pseudonymenforschung zumindest indirekt betrifft, ist die umfassende Monographie „Inoffizielle Personennamen“ (1992) von KANY zu nennen. In dieser linguistischen Untersuchung werden zwar nicht Pseudonyme, sondern Spitznamen zum Forschungsgegenstand gemacht – Pseudonyme werden sogar gezielt exkludiert (KANY 1992: 2) –, KANYS Monographie zeigt jedoch insgesamt eine Hinwendung der Onomastik zu den inoffiziellen Formen des Personennamens an. Es handelt sich dabei außerdem um eine erste Publikation, die inoffizielle Personennamen auf der Basis einer eigenen, größeren Materialgrundlage empirisch untersucht – obwohl KANY dabei NÜBLING zufolge „eine problematische empirische Basis verwendet“ (NÜBLING 2017: 99).
Einen wichtigen Beitrag zur Pseudonymenforschung leistet KÜHN mit ihren empirischen Untersuchungen zu den Decknamen inoffizieller Mitarbeiter in der DDR (1993, 1995, 2004). Möglich werden solche Untersuchungen erst durch die politischen Veränderungen im Jahr 1989, in deren Folge es im Jahr 1992 zur Veröffentlichung der Decknamen von 4500 inoffiziellen Mitarbeitern kommt (KÜHN 1995: 515). Zuvor gab es für die Untersuchung von Tarnnamen