2.1.4 Ortsfest und ephemer
Graffitis sind ortsfest, weil sie – im Gegensatz zu Schrift auf traditionellen Schreibmaterialien wie Papyrus, Pergament und Papier – in materialer Hinsicht an den Ort gebunden sind, an dem sie entstehen (TOPHINKE 2017: 167f.).1 In der Regel können sie somit weder transportiert noch verkauft oder in einer Galerie ausgestellt werden. FERRELL UND WEIDE weisen darauf hin, dass die Graffitis keinesfalls zufällig oder beiläufig entstehen, sondern sich die Writer viele Gedanken über die Wahl des richtigen Ortes und Untergrundes machen, „discriminating between locations and surfaces according to precise subcultural criteria shared across different neighborhoods and cities“ (2010: 51).2 Ist der richtige „Spot“ gewählt, verbleiben die Werke dort – angebracht auf Untergründen wie Beton, Holz, Metall oder Stein –, bis sie entfernt oder übermalt werden.
Im öffentlichen Raum sind Graffitis prinzipiell „vulnerable to all sorts of erasure“ (FERRELL 2016: xxxiv). An Halls of Fame3 oder auf anderen beliebten Flächen wie Unterführungen werden Graffitis oft von anderen Writern überschrieben, an Hauswänden werden sie von den Eigentümern entfernt. Hinzu kommt, dass sie durch ihre Ortsfestigkeit ungeschützt vor Wind und Wetter im öffentlichen Raum verbleiben, sodass die Farbe langsam verblasst und abgetragen wird.4 Ein Konservieren einzelner Werke erfolgte bisher nur in einigen wenigen Fällen.5 Somit lässt sich sagen, dass es sich bei Graffitis um ein „ephemere[s] Kulturgut“ handelt (PAPENBROCK 2015: 183).
Besonders kurzlebig sind Graffitis auf Zügen, weil sie hier in der Regel sofort wieder entfernt werden. Von den Zuggraffitis, die teilweise qualitativ sehr hochwertig gefertigt wurden, ist heute keines mehr erhalten; die Werke liegen nur noch als Fotografien vor (PAPENBROCK 2015: 178). Darüber hinaus wird das Besprühen von Zügen für die Writer zunehmend durch die starken Sicherheitsvorkehrungen in den Bahndepots und die neuen technischen Möglichkeiten der Überwachung erschwert. Während den New Yorker Sprühern in den Anfangsjahren noch mehrere Stunden Zeit für das Besprühen eines Zuges blieb, haben die Sprüher heutzutage nur noch etwa fünf Minuten bis zum Eintreffen der Polizei (PAPENBROCK 2015: 169).
Wie lange ein Graffiti Bestand hat, hängt damit stark von dem Ort ab, an dem es angebracht ist. An seinem Anbringungsort kann es wenige Stunden bis hin zu vielen Jahren überdauern. Die Zeichnungen des Züricher Sprühers Harald Naegeli, für die er Anfang der 80er-Jahre wegen Sachbeschädigung verurteilt wurde, werden heute beispielsweise mit Lack überzogen und konserviert. Andere seiner Werke werden aus der Hauswand „herausoperiert“, um sie in Galerien auszustellen.6 Diesbezüglich erscheint es sehr treffend, was SCOLLON UND SCOLLON zu transgressiven Zeichen sagen: „We should be aware […] that what is ‘transgressive‘ at one time can become itself a semiotic system that can be used symbolically at another time or in another place.“ (2003: 151)
An der Wand konserviert werden jedoch nur die wenigsten Formen. Im Bereich des Szenegraffitis hat es bislang gar keine derartigen Bemühungen um Erhaltung gegeben. Die Szene verschafft sich daher auf einem anderen Weg Abhilfe, um ihre Werke vor dem dauerhaften Verschwinden zu bewahren: Sie fotografiert die Graffitis und stellt sie im Internet aus (FERRELL 2016: xxxiv).7 PAPENBROCK weist darauf hin, dass die Vergänglichkeit der Graffitis dadurch jedoch nicht aufgehalten wird, weil auch das Internet ein flüchtiges Medium ist (2015: 171).
Graffitis sind zwar in materialer Hinsicht an einen Ort gebunden, die Ortsbindung besteht jedoch nicht in semantischer Hinsicht (TOPHINKE 2017: 167). Die meisten Szenegraffitis können an beliebigen Orten platziert werden, ohne dass dies ihre konzeptionelle oder referenzielle Semantik beeinflussen würde.8 Damit unterscheiden sie sich von anderen Formen der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum, die sich häufig gerade dadurch auszeichnen, an den räumlichen Kontext gebunden zu sein, in dem sie platziert sind (vgl. dazu AUER 2010). Diese Formen werden auch als indexikalisch bezeichnet. Eine semantische Ortsbindung besteht beispielsweise bei Warnschildern mit der Aufschrift „Achtung Rutschgefahr“, die typischerweise an oder auf frisch gewischten Flächen platziert werden (AUER 2010: 276). HENNIG (2010: 82) argumentiert, dass bei derartigen Formen ortsgebundener Schriftlichkeit der verbale Code (die Beschriftung) mit anderen Zeichensystemen (z.B. bildlichen Elementen) und dem Ort der Anbringung interagiert und sich das „grounding“9 (LANGACKER 2008: 260ff.) dieser Formen über dieses Zusammenspiel ergibt. Rezipienten können das Schild „Achtung Rutschgefahr“ demzufolge richtig interpretieren, weil die lokale und temporale Gültigkeit der Aufforderung durch den Ort, an dem das Schild platziert ist, und das Hier und Jetzt gegeben sind (HENNIG 2010: 82).
Es gibt auch Graffitis, die einen indexikalischen Bezug aufweisen. Diese Formen beziehen sich direkt auf die Umgebung und sind von dieser in semantischer Hinsicht abhängig. Ein Beispiel für indexikalische Graffitis zeigt Abb. 5: Auf diesem Foto ist der Schriftzug SPASTEN! mit einem Marker an eine Haustür geschrieben worden (24866). Die Platzierung klärt hier über die referenzielle Bedeutung des Substantivs auf: Die Wortsemantik bezieht sich offensichtlich auf die Bewohner des Hauses. Bei einer anderen Platzierung würde sich die Bedeutung des Graffitis dementsprechend verändern.
Abb. 5: Indexikalisches Graffiti
Bei den meisten Szenegraffitis liefert der räumliche Kontext demgegenüber keinen Hinweis für die Interpretation. Dies gilt insbesondere für die Graffitinamen: Der referenzielle Bezug der Graffitinamen ergibt sich nicht aus ihrer Platzierung. Daher ist AUER zuzustimmen, der Graffitis mehrheitlich zu den nicht-indexikalischen Zeichen zählt (2010: 279).10
2.1.5 Öffentlich
Wenn es um eine generelle Beschreibung des Phänomens Graffiti geht, so wird in verschiedenen Publikationen der „öffentliche Raum“ herangezogen, um Graffitis zumindest grob räumlich verorten zu können.1 Dabei ist jedoch oft nicht ganz klar, was genau der Begriff „öffentlicher Raum“ umfasst. Ein Raum kann zunächst mit DE CERTEAU als „ein Ort, mit dem man etwas macht“ verstanden werden (1988: 218). Eine Straße wird beispielsweise erst durch die Passanten, die sich in ihr bewegen, zu einem Raum; Räumlichkeit setzt dementsprechend Bewegung voraus (DE CERTEAU 1988: 218f.). Nicht ganz einfach zu bestimmen ist jedoch, wann ein Raum als öffentlich gilt.2 Es kann selten eindeutig zwischen privaten und öffentlichen Bereichen unterschieden werden. Erschwert wird eine Begriffsbestimmung zusätzlich durch verschiedene Definitionen, bei denen je nach disziplinärem Hintergrund ein anderer Fokus vorliegt.
Für eine generelle Verortung der Graffitis eignet sich eine weit gefasste Definition des öffentlichen Raums, bei der es weniger um die Eigentumsverhältnisse und mehr um die Zugänglichkeit zu Räumen geht. Ein solches Begriffsverständnis wird auch im „Metzler Lexikon Kunstwissenschaft“ zugrunde gelegt, wenn es um die Beschreibung von „Kunst im öffentlichen Raum“ geht. Der öffentliche Raum umfasst demnach diejenigen Bereiche, „die der Bevölkerung ohne Beschränkung zugänglich sind“ (DOGRAMACI 2011: 242). Gleichzeitig gehören zum öffentlichen Raum auch „Zonen reduzierter Zugänglichkeit“ wie Banken und Schulen und sogar private Bereiche wie Hotelhallen und Einkaufspassagen, solange sie von einer größeren Öffentlichkeit besucht werden können (DOGRAMACI 2011: 242).
Den öffentlichen Raum bei einer Verortung von Graffiti zu nennen, ist sinnvoll, weil dieser Aspekt – was mit der Transgressivität der Zeichen einhergeht – für die Akteure selbst äußerst relevant ist. Dies lässt sich exemplarisch an einer Aussage des Hamburger Writers ZAK darlegen, der im Interview gefragt wird, wie wichtig die Umgebung für seine Werke ist: „Sehr wichtig. Ich bin ja kein Studio-Gangster. Graffiti muss draußen sein, damit es lebt, sich frei entfalten kann und wahrgenommen wird.“ (ZAK in Juice 115/2009: 100) Auch FERRELL UND WEIDE, die die Platzierung von Graffitis untersuchen, stellen fest, dass
[a]bove all, graffiti writers seek recognition, and in order to get the recognition they crave, they need people to see their graffiti. Because of this, each act of writing graffiti involves a deliberate decision