Sich einen Namen machen. Julia Moira Radtke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Moira Radtke
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301929
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in mehreren Arbeitsschritten.

      Graffitis werden auch durch die räumlichen und sozialen Bedingungen ihrer Herstellung beeinflusst. Da die Handlungen illegal sind, erfordert das Sprühen eine gewisse Wachsamkeit, um nicht von der Polizei ertappt zu werden. Graffitis werden daher typischerweise schnell angebracht und die Writer stehen beim Sprühen unter Anspannung. Die Graffitis lassen die Schnelligkeit der Bewegungen teilweise erkennen, etwa, wenn die Schrift besonders zackig wirkt. Außerdem werden die Werke typischerweise nachts angebracht, was die Lichtverhältnisse bei der Produktion beeinflusst. Der Writer RAZOR, der im norddeutschen Raum aktiv ist, erklärt beispielsweise im Interview mit Stylefile, dass sich die nächtliche Produktionssituation auf seine Farbwahl auswirkt:

      [M]eine Bilder [sind] sehr kontrastreich und in der Ausführung flüchtig umgesetzt, weil die Bilder immer im Dunkeln und unter Zeitdruck entstehen. Die meisten meiner Pieces gefallen mir im dunklen Yardlicht besser. Dort werden die Farben zu grautönen, die ich versuche im Bild harmonisch anzuordnen. Die Farbharmonie in der Nacht entpuppt sich am Tageslicht meistens als Trugschluss und lässt das Bild dann ganz anders wirken. (RAZOR zitiert nach Stylefile 45/2015, online verfügbar auf ilovegraffiti.de)2

      Kontrastreichtum und grelle Farben sind demzufolge mitunter auch auf die Dunkelheit während der Herstellung zurückzuführen. Daran zeigt sich, dass Eigenschaften der Graffitis wie Linienführung und Farbgebung vor dem Hintergrund der Praktik, in die sie eingebettet sind, zu interpretieren sind.

      2.1.8 Zusammenfassung

      Graffiti wird als Bezeichnung für technisch und visuell ganz unterschiedlich gestaltete Werke verwendet. Beim Szenegraffiti handelt es sich jedoch um eigenständige Formen öffentlicher, ortsfester Schriftlichkeit, die von anderen Formen, die mitunter ebenfalls als Graffiti bezeichnet werden, abzugrenzen sind. Die Eigenständigkeit des Szenegraffitis lässt sich an verschiedenen Eigenschaften und Aspekten festmachen, die hier – unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der verschiedenen linguistischen Forschungsfelder – dargestellt wurden.

      Dabei wurde u.a. die besondere Bildlichkeit des Szenegraffitis herausgestellt, die – das ließ sich auch den Aussagen der Writer entnehmen – für die Graffitiwerke konstitutiv ist. Darüber hinaus wurde erläutert, dass es sich beim Graffitiwriting um eine Praktik handelt, da sich die Writer routiniert in bestimmten Räumen bewegen und dort bestimmte Handlungen ausführen, die in der Graffitiszene funktional und sinnhaft sind. Graffitis sind in dieser Perspektive Artefakte, deren Form (auch) durch die Gegebenheiten ihrer Herstellung bestimmt wird. So wirken sich beispielsweise die räumlich-situativen, physischen und sozialen Bedingungen der Praktik auf die visuelle Erscheinung der Graffitis aus.

      Des Weiteren wurde hier dargestellt, dass Graffitis Formen von ortsfester, öffentlicher Schriftlichkeit sind, weil sie im öffentlichen Raum angebracht werden und für den Verbleib an ebendiesem Ort konzipiert sind. Beim Szenegraffiti besteht jedoch kein semantischer Bezug zum Ort: Sie können auch an anderen Orten positioniert werden, ohne dass sich dadurch ihr Sinn verändert. Allerdings ist es der Anbringungsort, der Graffitis überhaupt zu transgressiven Zeichen macht. Angebracht auf legalen Flächen sind Graffitis nicht transgressiv.

      Als ortsfeste, öffentliche Schriftlichkeit, die typischerweise handschriftlich angebracht wird, gehört auch die Vergänglichkeit zu den Kennzeichen der Szenegraffitis. Sie verbleiben an ihrem Entstehungsort nicht dauerhaft und sind damit ein ephemeres Phänomen. Diese Vergänglichkeit versuchen die Writer dadurch zu kompensieren, dass sie ihre Werke fotografieren und im Internet präsentieren.1

      2.2 Die geschichtliche Entwicklung des Graffitis

      Eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Szenegraffitis ist für diese Arbeit relevant, da die Entstehung und die Weiterentwicklung der Graffitiszene zeigen, dass der Name schon immer im Mittelpunkt der Szeneaktivitäten stand. Der Graffitiname war bereits für die ersten amerikanischen Writer das zentrale Konzept und die deutschen Sprüher haben dies von ihren Vorbildern übernommen. Im Laufe der Jahre veränderte sich allerdings die Realisierung des Namens: Die Gestaltung der Schrift hat im Vergleich zu den Anfängen der Graffitikultur im Amerika der 60er- und 70er-Jahre ganz andere Dimensionen angenommen.

      Es soll in einem ersten Schritt kurz darauf eingegangen werden, wie die geschichtliche Entwicklung des Graffitis zu beschreiben ist, wenn ein weites Begriffsverständnis von Graffiti zugrunde gelegt wird. Dies erscheint sinnvoll, weil sich dieses weite Begriffsverständnis, demzufolge Graffiti – gemäß der etymologischen Bedeutung von Graffito – Einritzungen bzw. Einschreibungen jeglicher Art bezeichnet, in vielen Publikationen findet.1 Es zeigt sich insbesondere in den Arbeiten der frühen Graffitiforschung (vgl. dazu NEUMANN 1986, GRASSKAMP 1982, HOFFMANN 1985, KREUZER 1986 und SKROTZKI 1999), wird aber auch noch in aktuelleren Publikationen zugrunde gelegt (vgl. dazu etwa NORTHOFF 2005, BEHFOROUZI 2006, BEYER 2012 und ACKER 2013).2 Deshalb wird diese Perspektive auf Graffitis im Folgenden kurz skizziert, wobei gleichzeitig erläutert wird, warum in dieser Arbeit von diesem weiten Begriffsverständnis Abstand genommen wird.

      2.2.1 In- und Aufschriften seit der Steinzeit

      Da das Beschriften und Bemalen von Flächen an frei zugänglichen Orten eine alte kulturelle Praktik darstellt, lässt sich Graffiti bei einem weiten Begriffsverständnis in eine lange Traditionslinie stellen. NORTHOFF formuliert sogar, „dass Graffiti[s] immer schon und kontinuierlich, wenn auch zu Zeiten unterschiedlich intensiv produziert wurden“ (2005: 14).1 Denn wenn Graffitis ganz allgemein als anonym angebrachte Schriften bzw. Bilder verstanden werden, können auch steinzeitliche Erzeugnisse wie Höhlen- und Felsmalereien, wie sie sich beispielsweise in Frankreich und Spanien finden, als „prähistorische Graffiti[s]“ gedeutet werden (KREUZER 1986: 428).

      Auf die Wandkritzeleien aus der 79 n. Chr. verschütteten Stadt Pompeji wird ebenfalls häufig mit der Bezeichnung Graffiti referiert (z.B. bei BEYER 2012: 14, ACKER 2013: 8, BAIRD UND TAYLOR 2016: 18). Der Ausbruch des Vesuvs begrub die damals etwa 15000 Einwohner zählende Stadt unter einer Ascheschicht, wodurch heute eine Art Momentaufnahme römischer Lebensweise erhalten geblieben ist (BEYER 2012: 14). Durch die Ascheschicht wurden nicht nur die Gebäude und das Mobiliar konserviert, sondern auch Einschreibungen und Einritzungen an Hauswänden und Mauern. Insgesamt wurden in der Stadt etwa 15000 Inschriften und Zeichnungen aufgefunden (NORTHOFF 2005: 45). Die inhaltliche Bandbreite der Kritzeleien ist groß: Sie reicht von politischen Kommentaren, einer Art von Gesucht- und Gefunden-Notizen sowie Zitaten von Vergil und Ovid (WHITEHEAD 2004: 26) bis zu erotischen Aussagen und Liebesbekundungen (NORTHOFF 2005: 54). Auch Namen finden sich bereits unter den Wandbeschriftungen im antiken Pompeji.

      Es ist anzunehmen, dass Pompeji nicht die einzige Stadt war, in der sich Bewohner und Reisende an den Wänden verewigten. Aus Schriften des Plinius geht hervor, dass Reisende regelmäßig Wände und Säulen des Heiligtums der Clitumnus-Quelle in Umbrien beschriftet haben sollen (BEYER 2012: 14). Auch anderen Dokumenten kann entnommen werden, dass öffentliche Gebäude wie Thermen, Tempel und Brücken beschrieben wurden (BEYER 2012: 14). NORTHOFF schlussfolgert, dass „[d]ie Wände antiker Häuser und Gassen […] ein verwirrend buntes Bild abgegeben haben“ müssen (2005: 61).

      Auch im Mittelalter wurden schriftliche und bildliche Zeichen an öffentlichen Orten angebracht. Davon zeugen geritzte und gekratzte Namen, Initialen und Wappen von Reisenden und Pilgern des Spätmittelalters (KRAACK 2002: 51). Der Ulmer Dominikanerlesemeister Felix Fabri berichtet auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem 1483 beispielsweise Folgendes über das Verhalten deutscher Adliger:

      Ich habe etliche Adlige beobachtet, die sich zu solcher Narrheit verstiegen, daß sie in die Kapelle des Kalvarienbergs hinaufstiegen, sich auf den heiligen Felsen, in dem das Kreuzesloch ist, hinsinken ließen und sich den Anschein gaben, als beteten sie. Dann stützten sie die Arme auf und ritzten heimlich mit spitzen Gerätschaften Wappenschilde ein. […] Einige, die von derselben Dummheit getrieben waren, ritzten, alle Scheu und Gottesfurcht hintanstellend, in die Grabplatte über der allerheiligsten Beisetzungsstätte des Herrn mit Metallstiften ihre Namen und Wappenschilde ein, damit die Erinnerung an ihre eitle Unvernunft nicht getilgt werde […]. (FABRI