Die Vielgeliebte. Jörg Mauthe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Mauthe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005914
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vom sprühenden Zorn, von der flammenden Begeisterung und so weiter, ob die nicht einen physikalischen Zustand beschreiben, der an dazu besonders disponierten Personen, an Menschen zum Beispiel von einer gewissen gesteigerten Lebensintensität, tatsächlich so etwas wie ein wahrnehmbares Leuchten hervorrufen kann. Bei Heiligen, die ja sicherlich sehr lebendige Wesen waren, gilt das ›leuchtende Antlitz‹ ja fast als Stereotyp; der bekannte Heiligenschein ließe sich solcherart als rares, aber nicht übernatürliches Phänomen erklären. Ich habe mich während meiner medizinischen Laufbahn nie um solche Schwerbeweis barkeiten gekümmert, aber vielleicht tu’ ich’s noch einmal, denn diese Begegnung hat mich beeindruckt, ja, sehr beeindruckt.«

      Diese Schilderungen meines Freundes bereiteten mir Freude und große Sorge. Ich freute mich, daß er das Einzigartige am Wesen der in Frage stehenden Person so gut erkannt hatte und davon so überwältigt war. Was er gesagt hatte, stimmte alles, besonders aber seine Erkenntnis ihrer Lebensintensität. Ja, ihre Präsenz war überwältigend: was immer sie tat, tat sie ganz und gar, als täte sie es nur ein einziges, nämlich dieses Mal, ohne Erinnerung daran, daß sie es vielleicht schon früher einmal getan hatte, und ohne daran zu denken, daß sie es vielleicht wieder tun würde. Darum auch war sie durch und durch unschuldig, als stünde sie gänzlich außerhalb von Ursachen und Wirkungen. Auch tat sie alles, was sie tat, ohne Rückund Vorsicht, vielmehr ganz dem augenblicklichen Tun hingegeben: sie konnte zweiundsiebzig Stunden durcharbeiten, ohne auch nur von ihrem Sessel aufzustehen – das bedeutete drei aufeinanderfolgende Nächte ohne Schlaf; aber sie konnte – was sie freilich zu selten tat – gut und ebenso lange schlafen, denn sie benützte den Schlaf nicht als Droge, sondern genoß ihn wie Essen oder Trinken oder das Schwimmen in einem See. Sich zu verstellen, war ihr unmöglich: wenn sie sich freute, zeigte sie es, wenn sie litt, zeigte es sich, und wenn sie zornig wurde – nun, der Medizinalrat hatte es erlebt.

      »Leuchten, ein sinnlich wahrnehmbares Leuchten! Sowas wie ein Heiligenschein, verstehst du?« sagte er. »Nicht, daß es sich um eine Heilige gehandelt haben dürfte, nein, so weit gehe ich nicht, eine Heilige würde mich ja wohl nicht einen ausgefressenen Volltrottel nennen und Verbrecher, der die Menschen glatt krepieren läßt, weil er vor Faulheit stinkt und so weiter.«

      Warum aber war ich auch besorgt, wenn ich mich doch freute, daß ich diesen Mann, dessen Urteil mir in vielen Dingen wichtig war, mit solcher Anerkennung, ja Begeisterung von einem Menschen sprechen hörte, den ich liebte?

      Da ist sie nun wieder, die Frage, um die ich einen Umweg gemacht habe, sooft sie sich mir stellte, täglich also, die Frage, die ich sowenig beantworten kann wie die nach den Umständen und Ursachen meiner sonderbaren Heiligkeit. Nicht danach, ob sie liebte, ging die Frage, sondern nach dem Wie davon; denn ich liebte sie nicht nur als eine Frau, wie fast jeder Mann, der in ihre Nähe kam, sondern auch als der Heilige, zu dem sie mich wider Willen gemacht hatte und dem sie sich ein für allemal so völlig anvertraut hatte, daß er solcherart unausgesetzten Zugang zu der wirklichen Wahrheit eines anderen Menschen fand, was, wie der Mensch nun einmal beschaffen ist, selbst dem Liebenden höchstens augenblicksweise gelingt, auf Dauer aber eben nur dem Heiligen zuteil wird; darum war sie einzigartig für mich, wie das letzte noch lebende Exemplar einer schon längst ausgestorben geglaubten Spezies für einen Naturforscher oder Ethnologen; ich wußte zu jeder Minute, was sie dachte, aber immer hatte sie mit viel unschuldiger Listigkeit schon längst vorher aus mir herausgebracht, was ich dachte, oder wußte sie, wie ich von Mal zu Mal denken würde, um so denken zu können wie ich (daß dem so war, wußte sie hingegen nicht; das Reflektieren war keineswegs ihre Stärke); am Ende liebte ich sie wohl als mein besseres, weil deutlicheres Ich. Ich bin kein glücklicher Mensch, also bin ich sentimental; da ich sentimental bin, suche ich das Glück nicht bei mir, sondern bei anderen. Und sie war, könnte ich heute sagen, mein Glück.

      Deshalb war meine Sorge um sie jederzeit fast so groß wie meine Liebe: wie ein Entdecker suchte ich meinen Fund ein wenig geheimzuhalten oder ihn wenigstens davor zu bewahren, von anderen in seiner ganzen Bedeutung erkannt zu werden. Ich war nicht eifersüchtig, niemals, auf keinen, den sie liebte – nicht auf Tuzzi, nicht auf den Fürsten, nicht auf ihren Geschiedenen. Aber ich fürchtete jeden, der ahnungslos und unwissend in ihren Kreis trat und vielleicht nicht genug Liebe mitbrachte, um das Einmalige dieser Existenz zu begreifen und mit uns anderen zu bewahren, sondern es aus Unwissenheit zerstören würde.

      Das war, so ungefähr, der Grund, warum mich die Mitteilungen des Medizinalrates mit Sorge erfüllten; seine in jeder Hinsicht schwergewichtige, raumverdrängende und zynische Persönlichkeit wünschte ich nicht in der Nähe meines Geheimnisses zu sehen; ich konnte mir den Medizinalrat nur allzugut als Zerstörer vorstellen; und er kannte mich wahrhaftig gut genug, um mich, falls er’s wollte, in meiner Rolle als Hüter und Heiliger in jedermanns Augen lächerlich machen zu können oder zu peinigen bis aufs Blut.

      Alle sind gekommen, alle sind sie da.

      Ich lasse mich ein wenig tiefer in die Hand des Silbernen sinken, öffne trotz meiner Benommenheit die Augen und sehe lächelnd die schwankende Silhouette des Mammuts an: Wie falsch habe ich den Medizinalrat eingeschätzt! Und wie sehr habe ich damals sie unterschätzt!

      Er zieht fragend die Schultern hoch, aber ich habe ihm nichts mehr zu sagen. Ich schließe die Augen wieder und gehe weiter nach innen und den langen Weg zurück.

      Es ist ein interessanter Weg; das eilige Gras der Zeit hat ihn da und dort bereits überwachsen; hier und dort setzt sich an den Tatsachen der vergangenen Gegenwarten schon das Moos der Vergeßlichkeit an. Vieles ist nicht mehr so, wie es damals schien, und ich bin durchaus nicht sicher, daß der Weg wirklich dorthin zurückführen wird, wo er einst angefangen zu haben schien.

      Aber das macht nichts: im Nachhinein beginnt alles zu stimmen.

      Was jetzt geschieht und noch geschehen wird, ist verwirrend, unsicher und nicht bedeutend.

      Aber was schon passiert ist, ist wahr. Die Zeit hat’s in Sicherheit gebracht.

      Ja, da staunt man manchmal.

      Der Medizinalrat hatte sich eine Zigarre angezündet, und die glühte, wenn er daran sog, in dem nun schon fast dunklen Zimmer auf, bald da, bald dort, als wäre sie sein verlorenes Auge.

      »Es war der Auftritt dieser kleinen Furie«, sagte seine dröhnende Stimme, »ein grandioses Ereignis, und wie alle großen Begebenheiten spielte er sich sehr rasch, sozusagen in Sekundenschnelle ab. Nichtsdestoweniger fand das salamandrische Geschöpf Zeit genug, mir auch noch Watschen anzudrohen, falls ich mich nicht umgehend über den Patienten hermachen sollte, und als ich, das rein technische Problem dieser Drohung bedenkend – denn das kleine Ding reichte mir wie gesagt knapp über den Nabel, fragte, wie sie das wohl anstellen würde, schleudert diese winzige Erinnye da nicht einen von den Wartesesseln vor mich hin, springt mit einem Satz hinauf – und wahrhaftig, besäße ich nicht hervorragend funktionierende Reflexe, ich hätte die erste Ohrfeige seit Kindertagen gekriegt!«

      »Wie ging die Sache aus?« fragte ich, denn ich wollte ihr ein Ende machen.

      »Da ist weiter nicht viel zu sagen. Der Mann wurde operiert, von meinen eigenen Händen, die ja an sich viel zu kostbar für einen Blinddarm sind, aber es war gut, daß ich selbst dranging, denn, das muß zur Unehre des Portiers Brosenbauer gesagt sein, mit diesem Appendix war’s höchste Eisenbahn, allerhöchste. Weshalb man mit Recht folgern könnte, daß besagte kleine Leucht-Furie dem Mann das Leben gerettet hat, einem Mann, der übrigens ein bemerkenswerter Fall ist, nicht in medizinischer Hinsicht, meine ich, sondern in beruflicher. Offenbar ein ganz großes Kaliber auf seine Art.«

      »Inwiefern?«

      »Erzähl’ ich dir vielleicht ein anderesmal, wenn meine Klatschsucht zufällig gerade größer sein sollte als meine Achtung vor der ärztlichen Schweigepflicht.«

      »Auch recht«, sagte ich und stand auf. »Und da nun alles in Ordnung ist, können wir ja endlich gehen?«

      »Es ist nichts in Ordnung«, sagte der Medizinalrat. »Nichts.«

      Natürlich nicht. Er hatte mir die Szene nicht als Anekdote erzählt wie anderes, was ihm täglich mit seinen Schwestern, die ihn fürchteten, seinen Patienten, die ihn vergötterten, und seinen Kollegen, die