Denn ein Heiliger muß zwar alles verstehen und verzeihen können, nicht aber, wenn er klug ist, alles wissen wollen.
Der Heilige bin ich.
Und darum bin ich da.
Ja, ich bin oder war bis vor kurzem ein Heiliger; und so sonderbar das auch sein mag, von allen, die da sind, hat keiner diese meine Eigenschaft bezweifelt, obgleich der eine oder andere sie vielleicht manchmal als lächerlich empfunden hat. Nur ein einziger hat es jemals gewagt, mich in vorsichtigen Worten um genauere Auskunft darüber zu bitten.
Der dies wagte, damals, in einer der Nächte des Großen Festes, war der Legationsrat gewesen, natürlich er und kein anderer, denn nur Tuzzi versteht Fragen auch nach dem Geheimnis eines Menschen zu stellen, daß man sie ohne Scheu beantwortet, weil er einem dabei den Eindruck zu vermitteln weiß, man könnte sich an jedem Punkt des Gesprächs ebensogut der Aussage enthalten wie es in eine andere Richtung lenken, ohne daß seine Anteilnahme darum geringer würde. Ich freue mich, daß ich sein Freund bin; wäre er mein Feind, würde ich mich vor diesem unvergleichlichen Amalgam von Desinvolture und Präsenz fürchten.
Wir saßen damals – das Große Fest hatte seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht – im »Rhodos« in der Kaiserstraße, in einer Nische, in die wir uns zurückgezogen hatten, um eine schon seit Stunden andauernde leichte Trunkenheit mit Ouzo und Retsina zu stabilisieren, abseits der kleinen Tanzfläche, auf der unsere Freundin mit dem Medizinalrat, dieser doppelt so groß wie sie und dreimal so umfangreich, einen langsamen Sirtaki tanzte, welcher die griechischen Gastarbeiter im Lokal offensichtlich entzückte, obwohl er wahrscheinlich nicht viel Ähnlichkeit mit dem aufwies, was in Piräus als Sirtaki gilt. Aber damals, während des Großen Festes, gelang uns allen ja alles: alles, was wir wollten, fiel uns damals zu und ein, warum nicht auch ein Sirtaki.
»Ja, Sie haben es erraten«, sagte ich, »ich bin ein Heiliger. Und ich werde mich bemühen, Ihre Frage nach der Ursache davon zu beantworten, obzwar es sich hier um einen Vorgang handelt, der sich einer Beschreibung weithin entzieht.« (Ich sprach in langen und pedantischen Sätzen, wie immer, wenn ich betrunken bin, weil ich damit beweisen will, daß der Alkohol mich gehirnlich nicht beinträchtigt.) »Soweit ich es beurteilen kann, wird man nicht durch eigenes Verdienst zum Heiligen, sondern weil sich der Wunsch oder das Bedürfnis nach dem Vorhandensein eines solchen unvermittelt an einem festsetzt. Ich will damit selbstverständlich nicht für andere Heilige, etwa die in den Kirchen, sprechen, o nein, sowas stünde mir nicht zu, obwohl ich vermute, daß es ihnen mit ihrer Heiligkeit nicht viel anders ergangen ist als mir: daß sie nämlich von ihr sozusagen überfallen wurden. Sie überkommt einen, die Heiligkeit, verstehen Sie?«
»Wie eine Gnade?« fragte Tuzzi.
»So ungefähr. Aber eine Gnade ist es nicht, denn besonders glücklich macht mich die Heiligmäßigkeit keineswegs. Eher im Gegenteil.«
»Es steht nirgends geschrieben«, sagte Tuzzi, »daß Gnade etwas Angenehmes ist. Nach der Meinung der Scholastiker ist sie irresistibel und infinit. Man wird sie, wenn man sie einmal hat, willentlich so wenig los wie nur irgendein Danaergeschenk. Ihr Evangelischen seid da allerdings etwas anderer Meinung, nämlich der, daß man sich durch einen Willensakt der Gnade sehr wohl entledigen könnte, aber …«
»Dann muß ich in dieser Beziehung ein Katholik sein«, sagte ich, »weil ich wirklich nicht weiß, wie ich diese Gnade, falls sie also eine ist, je wieder loswerden könnte – es sei denn, sie selbst findet ein anderes Objekt oder Subjekt, auf dem sie sich freundlicherweise niederlassen wollte.«
»Damit sollten Sie im gegebenen Fall lieber nicht rechnen«, sagte Tuzzi einsichtsvoll und mitfühlend, indem er in die Richtung unserer Sirtakitänzerin eine kleine Verbeugung machte, die von ihr mit einem lustigen Augenzwinkern beantwortet wurde. »Doch was immer Ihre Empfindungen sein mögen – ich beglückwünsche Sie dazu. Denn immerhin: was Ihnen widerfährt, ist mehr als Liebe.«
»Danke vielmals«, sagte ich. »Aber ich gestehe Ihnen, daß mir etwas weniger, nämlich schon die Liebe, völlig genügen würde. Was darüber liegt und mehr ist, übersteigt auf die Dauer meine Möglichkeiten.«
»Ja«, sagte Tuzzi nach einer Pause, »Ihnen würde es genügen. Und mir, weiß der Himmel, auch. Und uns allen. Aber ihr nicht. Ihr eben nicht.«
Wir tranken Retsina und sahen eine Weile auf die Tanzfläche, wo ein graziöses Mammut mit einem kleinen bunten Vogel tanzte. Der Kellner Antonios trug einen großen Stoß Teller herein. Die Griechen ringsum begannen rhythmisch in die Hände zu klatschen.
»Sie lieben Sie also?« sagte ich.
»Noch immer«, sagte Tuzzi (und auch mit diesem rückhaltlosen Geständnis vergab sich der bewunderungswürdige Beamte nicht das geringste – aus dem einfachen Grunde, weil es jeder von uns eh schon wußte). »Und für immer. Und falls Sie das tröstet: Meine Liebe ist ebenso irresistibel und, mir scheint, auch infinit wie Ihre Gnade.«
»Eine Art Trost ist es schon«, sagte ich ernsthaft. »Und sie?« fragte ich weiter; denn obwohl ich mehr davon wußte als Tuzzi selbst, was meiner Eitelkeit, ich gebe es zu, so nebenbei doch einigermaßen schmeichelte, war ich doch sehr erpicht darauf, zu hören, wie er seine Meinung formulieren würde: vielleicht ergab sich daraus ein kleiner Hinweis auf die Lösung meiner und einiger anderer Probleme, die sich seit geraumer Zeit in einer Weise verknüpften, welche mir Angst machte; auch hoffte ich, daß andere, Tuzzi zum Beispiel, die Situation weniger kritisch empfinden würden; als Heiliger war ich ja schließlich verpflichtet, selbst geringen Hoffnungsschimmern nachzugehen.
Tuzzi gab mir keinen.
»Sie? Sie liebt mich natürlich auch«, sagte er. »Aber nicht mehr als alle anderen.«
»Sie hätten zutreffender sagen sollen: so sehr wie alle anderen.«
»Das ist richtig, und ich danke Ihnen für diese Korrektur; sie war notwendig, denn selbstverständlich teile ich mit allen Rittern und Narren ihres Hofstaats, Sie keineswegs ausgenommen, die Überzeugung, daß keiner von uns auch nur das Maß verdient, das man uns da so leicht zubilligt. Trotzdem: ich kann’s nicht ertragen, nicht mehr geliebt zu werden als Sie und ihr alle. Ich bring’s einfach nicht über mich. – Ich habe Ihnen nun meine Amfortas-Wunde gezeigt, die unaufhörlich blutende, aber da wir beide halb betrunken sind, wollen wir einander verzeihen: Sie mir, daß ich solche Sachen sage, ich Ihnen, daß Sie mich’s haben sagen lassen. Verzeihen Sie vielmals. Sehr zum Wohl!«
So verziehen wir einander als gute Freunde und tranken miteinander Ouzo und Retsina. Dann verbarg Tuzzi die Wunde wieder unter dem Mantel seiner Desinvolture und fragte mich, leichthin wie eh und je, wie sie mich denn erwischt und überkommen habe, die Gnade der Heiligkeit? Und ob sich dies unter sehr dramatischen Umständen abgespielt habe?
»Keine Spur von Dramatik«, sagte ich. »Es war das die einfachste Sache der Welt und kam so selbstverständlich, daß ich’s zunächst gar nicht bemerkt habe und erst viel später begriff. Es war weiter nichts, als daß sie mich eines Tages fragte, ob ich sehr gebildet sei.«
Aber weiter kam ich damals im »Rhodos« nicht, denn es war die Stimmung inzwischen zur Turbulenz gediehen. Die Musiker hatten ihre Verstärker auf höchste Lautstärke gedreht, und die Griechen klatschten rasend in die Hände, weil der Medizinalrat unsere Freundin, ohne seine Schrittfolge zu unterbrechen, mit beiden Händen über seinen Kopf hinaufstemmte, und in diesen Wirbel hinein knallten die zerbrechenden Teller, die nun von allen Seiten vor die Füße der Tanzenden geschleudert wurden.
Da unten in der Senke, hinter den beiden sich überschneidenden Bergrücken, wird geschossen. Das Echo der Schüsse läuft im Zickzack zwischen den Hängen herauf. Der Medizinalrat hat in seinem Hinund Herschwanken innegehalten, ich habe endlich den Blick frei auf das Stück Donaulandschaft dort unten, sehe aber weiter nichts. Die Schüsse verhallen, der Medizinalrat beginnt sich wieder hin und her zu wiegen.
Die fade Wärme, das regungslose Herumstehen, die Nachwirkungen der Schlafpulver aus den letzten Nächten machen mich ganz benommen, das mammuthafte