Es geht mir nicht gut?
Es geht mir sogar sehr gut, so gut wie schon lange nicht.
Es genügt, daß ich die Augen wieder schließe: schon befinde ich mich wieder in der vollkommenen Sicherheit dessen, was gewesen ist.
Die Geschichte vom Lipkowitz ist eine lange Geschichte, und ich bin mir nicht ganz sicher, daß ich alle ihre Teile ordentlich zusammensetzen kann. Einige an ihr sind ziemlich rätselhaft.
Sie jedenfalls, meine – oder auch: unsere – Freundin, akzeptierte den Fürsten vom ersten Augenblick an, obzwar sie in ihrer Kindheit bei den Roten Falken mitgetan hatte und seither – und als Kind der Vorstadt sowieso – mit beträchtlichen Vorurteilen gegen das Reiche und anspruchsvoll Auftretende behaftet war.
»Man sollt’s nicht glauben, daß es so was gibt!« sagte sie, verblüfft und hochachtungsvoll in einem, als sie den Lipkowitz zum erstenmal gesehen hatte.
Ja, man sollte es nicht glauben, daß es sie gibt, aber es gibt sie wirklich immer noch.
Manchmal fährt man, wenn man über Land fährt, an langen Mauern entlang, und hier und da steht zwischen den Mauern ein Schmiedeeisengitter, und man will einen Blick hindurch werfen auf das, was hinter diesen Mauern versteckt ist, aber bei dem Tempo, mit dem das Auto fährt, sieht man nicht viel, höchstens ein Stück Gelb, das zwischen den Bäumen hinter der Mauer durchschimmert; und daraus schließt man dann, wenn man schon wieder vorbei ist, daß dort ein Schloß gestanden sein dürfte.
In solchen von der Gegenwart abgetrennten Schlössern leben viele von ihnen auch heute noch, und öfter als man es glaubt, leben sie dort recht gut. Die Schlösser werden halbwegs instand gehalten, die Gutsbetriebe daneben vielfach musterhaft bewirtschaftet, und die großen Wälder, passende Umgebung sowohl wie solide wirtschaftliche Grundlage, gehören immer noch dazu.
Sie leben abseits der Geschichte, von der sie hervorgebracht wurden und an deren weiterer Produktion sie sich dann maßgeblich beteiligt hatten, abseits auch von dem, was man heutzutage Gesellschaft nennt und was, summarisch gesehen, keine gute, sondern eben nur das ist, was in Wien »a G’sellschaft!« heißt, also eine schlechte – aber sie sind so wenig ausgestorben wie Schnecken bei heißem Wetter. Sie haben sich nur zurückgezogen, in den Schatten der Geschichte, und dort gehen sie nur miteinander um, heiraten sie nur unterund kümmern sie sich nur umeinander. Seitdem in Österreich die Aristokratie of fiziell abgeschafft wurde, leben die österreichischen Aristokraten so exklusiv wie nie zuvor.
Soviel also über den soziologischen Hintergrund meines Schulfreundes Lipkowitz.
Freund? Nicht ganz. Zwar wäre ich seiner ganz gern geworden, und er, wenn ich mich nicht täusche, ebensogern der meine. Aber die Geschichte hat’s verhindert.
Er kam, das ist lange her, erst in der sechsten Gymnasium-Klasse zu uns, weil sie ihn aus einer anderen Schule hinausgeworfen hatten, und blieb dann bei uns auch nur ein Jahr, weil ihm unser Geschichtsprofessor, der ein besonders dummer und selbst für damalige Verhältnisse ungewöhnlich bösartiger Mensch war, wegen »Verächtlichmachung nationalsozialistischen Gedankenguts« die Note verweigerte. Dabei hatte der Lipkowitz gar nichts anderes getan, als nur leise gelächelt, wenn der Trottel auf dem Katheder von den Brandenburgern und den Hohenzollern, vom »großen« Friedrich und von diesem gräßlichen Bismarck sprach, von Figuren also, die selbst in den Jahren des Tausendjährigen Reichs an einer österreichischen oder damals vielmehr ostmärkischen Schule einfach nicht als legitim, geschweige denn als glorios darstellbar waren.
Unsere ganze Klasse, die Hitlerbuben eingeschlossen, machte sich denn auch ein Vergnügen daraus, den Professor mit hinterhältigen Fragen und sorgfältig ausgetüftelten Einwänden in immer absurdere diesbezügliche Argumentationen hineinzutreiben. Aber selbst grausames Kollektivgelächter vermochte diesen tückischen Mann nicht so zu irritieren wie das stille Lächeln des Lipkowitz. Das erst brachte ihn wirklich aus der Façon, obwohl sich der Lipkowitz als einziger an der Professorenreizerei nicht beteiligte – weil er vorsichtig sein mußte wegen seiner Schulzulassung und der Schwierigkeiten, die seine Familie mit den Nazis in anderer Hinsicht ohnehin schon hatte, sondern nur eben dasaß und vor sich hin lächelte. Das konnte der Professor nicht ertragen, und so konzentrierte er den ganzen Haß, den er gegen uns empfand, auf den Lipkowitz.
Diese Reaktion war dumm und ungerecht, nicht aber unlogisch. Denn die Lipkowitz (ursprünglich in Böhmen daheim) und die Zweyensteyn (aus der Steiermark) wie auch die Lipkowitz-Zweyenstein (schließlich in Wien und unter der Enns ansässig) waren seit dem 17. Jahrhundert allzeit unerschütterlich auf der Seite und zum höheren Ruhme des Hauses Habsburg gegen alle jene gestanden, die nach der nunmehr allein zu habenden Geschichtsauffassung als Herolde des endlich ausgebrochenen Großdeutschen Reiches gedeutet werden mußten: sie waren im Dreißigjährigen Krieg als Feldherren gegen die Protestanten gezogen, hatten im Siebenjährigen und 1866 als Generäle gegen die Preußen gekämpft, gehörten 1870 zu den Befürwortern eines Revanchekrieges an der Seite der Franzosen und waren nach 1918 Heimwehrführer gewesen; andere Lipkowitze und Zweyensteyne hatten als Minister gedient, jedoch gab es auch einen seinerzeit berühmt gewesenen Chirurgen und zumindest einen ebensolchen Literaten unter ihnen; der ältere Bruder meines Lipkowitz war, an seinem Erbfolgerecht nicht interessiert, 1938 nach Amerika gegangen und beantwortete von dort seine Einberufungsbefehle zur Deutschen Wehrmacht mit unflätigen offenen Postkarten.
Insofern war’s also nicht unbegreiflich, daß ein Halbidiot wie unser Geschichtsprofessor das Lipkowitz-Lächeln nur als einen von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde fortgesetzten Akt der Sabotage und des Widerstandes auffassen konnte.
Tragischkomisch daran war jedoch, daß der Lipkowitz gar nicht wirklich lächelte, sondern nur so aussah, als täte er’s. Es war dieses Lächeln Jahrhunderte früher vielleicht ein tatsächliches gewesen, ein höfliches und diplomatisches, das dann viele Generationen solange entwickelt und eingeübt hatten, bis es schließlich zu einer bloßen Familieneigenschaft wurde, so wie die drahtigen Haare des Lipkowitz, die er nie kämmen mußte, weil sie sich schon von selbst in eine straff disziplinierte Frisur legten, ein Familien-Merkmal wie der Lapislazuli-Ring, den jeder Lipkowitz zur Firmung erhielt (das Wappen zeigte ein Einhorn hinter einer aus zwei Steinen zusammengesetzten Mauer, darüber einen Stern).
Alle sind sie gekommen, alle sind sie da. Das Große Kaliber und der Geschiedene und der Lipkowitz …
Wo steht er denn? Ach ja, da links, neben dem Genie. Er hat sich seit damals überhaupt nicht verändert. Diesen Anzug aus feinem schwarzen Loden haben wir damals heimlich und neidvoll bewundert, obwohl wir es nie gewagt hätten, sowas anzuziehen, wir bürgerlichen und proletarischen Lederhosenund Knickerbockerträger. Sein Drahthaar ist nicht dünner geworden seitdem und so schwarz wie je, mit Ausnahme natürlich der dekorativen weißen Strähne über dem rechten Auge, von der wir aus irgendwelchen Gründen vermuteten – danach gefragt haben wir ihn nie, daß sie durch eine Einreibung mit Dachsfett entstanden sei.
Und wie damals und später scheint er zu lächeln und kann nichts dafür.
Die Klasse solidarisierte sich gegen den Geschichtstrottel und machte, eingeschlossen wiederum die Hitlerbuben, recht tapfere, wenn auch vergebliche Versuche, den Lipkowitz zu verteidigen. Aber im Grunde mochte sie ihn gleichfalls nicht, denn sein fatales Lächeln wirkte nicht minder verheerend auch auf all das Kleinbürgerliche und Proletenhafte, Unsichere und Halbfertige, das da rund um ihn in den Schulbänken hockte. Er befand sich in der peinlichen Situation des Schwans, der unters Hausgeflügel, oder eines Einhorns, das unter Weidevieh geraten ist. Freundschaft kommt da nicht zustande.
Ich war der einzige, der begriff, daß dieses Einhorn keineswegs hochmütig, sondern einfach hilflos war, und ich versuchte sogar, es ihm zu zeigen. Das freute ihn, und