Wie viel wiegt das Wissen? Was weiß die Wissensgesellschaft?, wird Liessmann Jahrzehnte später in seinem Buch Theorie der Unbildung fragen, und er wird die rhetorische Geste hinter dem entlarven, was unter dem Titel Wissensgesellschaft propagiert wird: Weniger um die Idee von Bildung geht es dabei als um handfeste politische und ökonomische Interessen, und je mehr der Wert des Wissens beschworen wird, desto schneller verliert das Wissen selbst damit an Wert, und diese «Kapitalisierung des Geistes» mündet schließlich in Unbildung, denn:
»Wer das Mittelmaß zum Maßstab macht, wird eben immer nur Mittelmaß produzieren.«
«Bei allem, was Menschen heute wissen müssen und wissen können – und das ist nicht wenig! – fehlt diesem Wissen jede synthetisierende Kraft. Es bleibt, was es sein soll: Stückwerk, rasch herstellbar, schnell anzueignen und leicht wieder zu vergessen», und «… dass niemand mehr zu sagen weiß, worin Bildung oder Allgemeinbildung heute bestünden, stellt
keinen subjektiven Mangel dar, sondern ist Resultat eines Denkens, das Bildung auf Ausbildung reduzieren und Wissen zu einer bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals degradieren muss».
Seine Kritik am aktuellen Bildungssystem durch die Kapitalisierung des Geistes veröffentlichte er vor allem in Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft und dann auch noch in zwei weiteren Büchern, der Streitschrift Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung sowie schließlich in Bildung als Provokation. In Geisterstunde argumentiert Liessmann gegen die Pisa-Studie und greift Bildungsexperten an; ihre Reformvorschläge würden die Fehler des existierenden Bildungssystems noch verstärken. Auch die «Kompetenzorientierung» des Unterrichts kritisiert er, an deren Stelle eher eine Orientierung an reinen Inhalten stehen sollte. In der modernen Pädagogik und der neuen Campus-Kultur mit ihren Mikroaggressionen und «Trigger-Warnings» gelte Faktenwissen nicht mehr viel, die Gefühle und Befindlichkeiten der Betroffenen jedoch zählten alles.
Wenn ich mir den jungen Schüler Konrad vorstelle, von dem er mir gerade erzählt hat, kann ich diesen nicht nur verstehen und seine Kritik aus ganzem Herzen nachvollziehen; ich kann mir auch gut vorstellen, warum der hoch angesehene Professor heute einerseits verehrt, andererseits massiv angefeindet wird. Und vor allem kann ich fast selbst fühlen, warum ihm das Thema Bildung so sehr am Herzen liegt.
«Im digitalen Zeitalter bilden die Schulen in ihren Tablet-Klassen Kinder und Jugendliche aber nicht zu mündigen Bürgern aus, die den totalitären Versuchungen der Internet-Konzerne widerstehen könnten, sondern machen sie zu deren Agenten», schreibt er etwa in DIE ZEIT.
«Nein, Bildung allein kann eine Gesellschaft nicht verändern», bestätigt er meine traurige Vermutung. «Wohl aber kann sie dazu beitragen, jene Diskurse kritisch zu hinterfragen, die lautstark die realen Veränderungsprozesse, etwa im Bereich der Technologie, affirmativ begleiten. Diese haben mittlerweile das gesellschaftskritische Denken nahezu aufgezehrt.»
Wie immer man es aber dreht und wendet: «Ob Bildung ein Selbstveränderungspotenzial in Hinblick auf Individuen oder Gesellschaften zugesprochen werden kann, hängt letztlich vom Mut ab, Bildung inhaltlich und normativ zu bestimmen. Solange Bildung formal als Durchlaufen von Zertifizierungsstellen oder Sammeln von Leistungspunkten definiert und auf den Erwerb von Kompetenzen und zeitgemäßen Kulturtechniken reduziert wird, erwächst aus diesen Bestimmungen weder eine notwendige noch eine mögliche Kraft zur Veränderung.» (Aus: Konrad Paul Liessmann, Bildung als Provokation).
«Vielleicht sollte man, statt ständig schreckhaft auf die Ergebnisse von Evaluierungen und Pisa-Tests zu starren, einmal von der experimentellen Annahme ausgehen, dass es junge Menschen gibt, die womöglich gute Gründe haben, sich zu verweigern», sagt Liessmann in einem Interview mit Der Standard mit dem Titel Bildung macht nicht nur Spaß: «Wer nur Lesekompetenz erwerben soll, ohne dass ihm je überzeugend klargemacht wird, welche lesenswerten Bücher es gibt, wird wenig Freude am Lesen haben und diese Kompetenz bald wieder verlieren. Das ist eigentlich Betrug an jungen Menschen, denen das Beste unserer Kultur vorenthalten wird. Die Zentralmatura dokumentiert nur diese Misere, und sie erlaubt weder Lehrern noch Schülern, besondere Interessen oder Schwerpunkte zu demonstrieren. Wer das Mittelmaß zum Maßstab macht, wird eben immer nur Mittelmaß produzieren.»
Aber vielleicht muss man jungen Menschen auch klarmachen, dass Bildung nicht nur Spaß macht: «Manche Bildungsverweigerer verweigern ja vielleicht auch deshalb, weil es zu wenig Spaß macht. Sie wachsen in einer Spaß-, Ablenkungs- und Zerstreuungskultur auf und kommen dann in eine Schule, in der es nicht nur Spaß gibt, und das gefällt ihnen nicht. Sie müssen auch lernen: Das Leben besteht nicht nur aus Spaß.»
Technologie allein wird die Probleme unserer komplexen Welt allerdings nicht lösen können, meint er in einem Dialog mit dem österreichischen Genetiker, Forscher und Bioethiker Markus Hengstschläger (Die Zukunft ist überbewertet, 2016). Dieser nämlich beklagt, dass es zu wenige junge Menschen gebe, die sich für Studien der Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften entscheiden.
»Leute, die nachdenken, kann es auch in Zukunft nicht zu viele geben.«
Liessmann verweist in diesem Kontext auf die Bedeutung der Philosophie und bezeichnet sie als die «Mutter aller Wissenschaften und das Handwerkszeug für das Denken, welches seit der Antike versucht, Wirklichkeit zu erfassen und Kausalitäten zu erforschen – durch Nachdenken, aber auch durch empirische Beobachtungen und Experimente». Es reiche nicht aus, Probleme einzig und allein aus einer technologischen Lösungsperspektive zu behandeln und diese dann möglicherweise auch noch mit einer Naivität unhinterfragt einzusetzen. Deshalb bestehe die Notwendigkeit, dass Menschen sich auch in historischen, sozialwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie Psychologie, Pädagogik und Philosophie bewähren, denn komplexe Fragen erfordern unterschiedliche Perspektiven. Und «Leute, die nachdenken, kann es auch in Zukunft nicht zu viele geben».
Warum man schwer sagen kann, ob die Vor- oder die Nachteile in unserer digitalen Welt überwiegen
Liessmann gedanklich herauszufordern ist sicher keine leichte Aufgabe. Umso mehr freue ich mich, dass ich ihn mit einer Themenstellung ein bisschen aus der Reserve locken kann. Vorerst antwortet er relativ emotionslos und sachlich. Doch plötzlich wird in unserem Gespräch etwas passieren, das ihn emotional bewegt. Ich freue mich darüber.
Führt die Flüchtigkeit der leichten Zugänglichkeit notwendigerweise zur Oberflächlichkeit? Das große Demokratisierungsversprechen des Web – wurde ja nicht eingelöst, oder?
«Jeder spricht heute von der Digitalisierung. Wie digital soll unsere gegenwärtige und zukünftige Welt sein?», frage ich in der Gewissheit, dass er darüber sicher schon oft referiert hat.
«Ich tue mich schwer mit der Antwort, da Digitalisierung so eine globale Angelegenheit ist. Ich glaube, man muss sich da viele einzelne Felder anschauen … Phänomene fast, die nur durch eines verbunden sind, nämlich durch die gleiche Technologie», diese Antwort überrascht mich vorerst nicht.
Natürlich bedeutet Digitalisierung, dass man jede Information als binäres mathematisches System mit 0 und 1 darstellen kann, damit rechnen und auswerten kann, erklärt der Professor. Aber so wie wir heute über Digitalisierung reden, hätte man vielleicht im 17. oder 18. Jahrhundert über die Frage geredet oder diskutiert, welche Bücher man lesen soll, und man hätte dazu gesagt: Buchdruck, ja oder nein? Der Buchdruck als Technologie verbindet alle gedruckten Texte, aber sagt nichts darüber aus, ob sie gut oder schlecht, brauchbar, unbrauchbar oder bedeutend sind. Die Digitalisierung setzt eine Zäsur für alle anderen Formen der Informationsaufnahme und -weitergabe. So weit der rein formale Zugang.
Immer wichtiger wird es aber werden, jene Formen des Denkens, Kommunizierens, Wissens und Fühlens zu behalten und auch zu schulen, die sich anderen Quellen, Methoden und Erfahrungen verdanken und deshalb einen anderen, distanzierteren Zugang zur digitalisierten Welt erlauben. Da es ohnehin nicht zu verhindern ist – und auch gar nicht verhindert werden soll! –, dass junge Menschen in eine digitale Welt hineinwachsen, wird vor allem auf Bildungseinrichtungen, aber auch