Sommer.»
Doch dann kam der Sprung. «Ich kann mich noch gut erinnern», erzählt er. Es war noch in der Volksschule: Der Bub ohne augenscheinliche Möglichkeiten, seine Umwelt zu beeindrucken, hatte sich dank der Spannung der Karl-May-Abenteuer eine Art Schnelllesetechnik angeeignet. Karl May war damals natürlich hinlänglich bekannt, etwa wie heute Harry Potter. «In der vierten Klasse konnte ich plötzlich sehr schnell und fließend lesen, und ich erinnere mich an die große Verblüffung, die ich ausgelöst habe, das ungläubige Staunen, als ich sagte, ich könne einen 400 Seiten starken Karl-May-Band in einem Tag auslesen. Niemand glaubte mir, aber ich wusste, ich kann es. Und da bemerkte ich, dass eine bestimmte Form von Lesenkönnen, der Umgang mit Literatur, Selbstbewusstsein vermitteln kann. Das war für mich sehr wichtig, mangels Ressourcen aller anderer Gebiete – kein guter Schüler, nicht reich, kein Auto, keine Urlaubsreisen, mit denen man hätte prahlen können – was blieb mir da übrig?»
Welche Empfindungen, Prägungen, Bilder aus der Kindheit und Jugend erscheinen sonst noch am Horizont?
«Nun, man neigt ja dazu, eine Mythologie seiner selbst zu entwerfen, im Nachhinein ist es immer schwer zu sagen, was wirklich prägend war», erzählt der analytische Denker: «Es gibt ja bei Familienevents die typischen Geschichten und Legenden, die man sich immer wieder erzählt und von denen man irgendwann nicht einmal weiß, ob sie stimmen oder nicht.»
Wenn er an seine Kindheit zurückdenke, gebe es eine starke Ambivalenz. Er möchte nicht sagen, er sei ein unglückliches Kind gewesen, aber besonders strahlend und glücklich war er wohl auch nicht. Durch seine schlechten Schulnoten, aber auch durch das schlechte Verhältnis, das er seit früher Kindheit zu seinem Vater gehabt hatte. Seine Mutter habe er sehr geliebt, das Verhältnis war besonders eng. Wichtige Bezugspersonen waren auch die Großeltern, die leider – «für mich viel zu früh gestorben sind – wir haben alle in einem Haushalt gelebt».
Er legt die Stirn in Falten, und sein Blick geht ins Leere.
Die Karl-May-Lektüre war der Auftakt einer Reihe von Episoden, die ihm gezeigt haben, dass sich der Großteil eines kindlichen Selbstbewusstseins und auch Selbstwertgefühls nur darüber erringen lässt, was man heute Bildungsanstrengungen nennen könnte. «Zumindest bei mir war es so.»
Er hat sich gern bewegt, was alle Kinder generell tun, meint er. Aber zu seinem Leidwesen war er kein begnadeter Sportler. Vor allem, was wohl schlimm war für einen Buben damals, kein guter Fußballer. Auch kein besonders guter Skifahrer. Ihm fehlten also fast alle Attribute, «… die für ein kindliches Selbstbewusstsein nötig sind. Als ich später bei Alfred Adler die Kompensationstheorie kennenlernte, war mir das vollkommen schlüssig: Geistige Anstrengung ist Kompensation für etwas, was man sonst nicht hat, in der Regel für körperliche Defizite.»
Die Individualpsychologie Adlers sieht die Ursache der Kompensation im Minderwertigkeitsgefühl des Kleinkinds, das sich als menschliches Wesen unvollkommen fühlt.
«Hätte ich auf einem dieser Gebiete – also Fußball, Skifahren oder etwas anderes dieser Art – reüssieren können und Anerkennung gefunden, auch wenn ich später nicht professioneller Sportler geworden wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht Philosoph geworden.»
Eine große Rolle in seiner Jugend spielt die damalige Aufbruchsstimmung: Die Gymnasialzeit fiel mitten in die «wilden 60er-Jahre». Die kulturelle und politische Atmosphäre dieser Epoche hat ihn damals nicht nur berührt, sondern unwahrscheinlich stark angezogen, erinnert er sich. Auch die Auseinandersetzung mit der aufkeimenden Pop- und Rockmusik war ihm sehr wichtig, der Ausdruck dieser Musik als Protest gegen den Vater, gegen etablierte Verhältnisse, gegen ein von ihm schon damals empfundenes versteinertes Schulsystem – das waren zentrale Erfahrungen.
«Man kann sich heute schwer vorstellen, dass ich in einer Zeit groß wurde, in der man mit seinen Eltern darum kämpfen musste, ob man eine bestimmte Art von Musik hören durfte oder nicht.»
Von seinem ersten ersparten Geld kaufte der «junge Wilde» ein Kofferradio, das all seine Ersparnisse aufzehrte, nur um die Musik und die Sender empfangen zu können, die er eben hören wollte. Dazu gehörte etwa der Sender Radio Luxemburg. «Den Ö3 gab es ja noch nicht.» Das Medium Radio hatte damals freilich einen ganz anderen Stellenwert als heute.
Laut Wikipedia hat Deutschlands Hitradio RTL seinen Ursprung bei eben jenem Sender Radio Luxemburg (heute RTL), der im Jahr 1933 als erster Privatsender Europas mit einem französischsprachigen Programm begonnen hatte. Nach der Befreiung Luxemburgs im September 1944 galt der Sender als offizielles Sprachrohr des alliierten Hauptquartiers. Wegen des Verbots kommerziellen Radios in Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland wurden bis in die 1980er-Jahre Programme in mehreren Sprachen aus Luxemburg gesendet. Das allein dürfte aus damaliger Sicht schon eine exotische Komponente gehabt haben. Dieser deutschsprachige Radiosender wird heute in Berlin produziert und luxemburg- und deutschlandweit via Kabel, Satellit (europaweit) und gebietsweise auch über UKW gesendet.
Diese Musik – Pop und Rock – war für den Schüler und Studenten recht prägend. «Ich bin ein Fossil, Radio Luxemburg, das ist alles Steinzeit, ist mir klar.» Sein Musikgeschmack hat sich später radikal geändert, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Philosophie. Wie verlief der Weg von Bob Dylan zu Richard Wagner? Das hängt unter anderem mit seiner Beziehung zu Theodor W. Adorno zusammen … aber dazu später mehr.
Der Kauf des ersten Radios, um sich selbst zu behaupten, später die erste Tonbandmaschine, um Musik aufzeichnen und später wieder hören zu können, dieser Wunsch blieb jedenfalls in ihm – bis zum heutigen Tag. Wichtig waren ihm auch die Erfahrungen mit der Technik und dem Umgang damit.
«Sobald ich es mir leisten konnte, kaufte ich mir eine gute Hi-Fi-Anlage und entwickelte eine Beziehung zur Technik der musikalischen Reproduktion, die ja letztlich um die Frage kreist, wie muss eine Anlage gebaut sein, damit die Musik wenigstens annähernd so klingt ‹wie in der Wirklichkeit›. Bis heute kann ich das nicht sein lassen.»
Liessmanns umfangreiche Musikanlage ist für ihn ein – zum Teil auch nostalgisches – Dokument für die ganze Ambivalenz technischer Innovationen.
Etwa die alte analoge Tonbandmaschine aus den 1980er-Jahren, die eine Tonqualität hat, an die keine digitale Reproduktionstechnologie herankommt, allerdings antiquiert, unpraktisch, völlig unzeitgemäß ist. Ebenso wie der sündhaft teure Plattenspieler und die Vinyl-Plattensammlung, die eine ganze Regalwand füllt. Andererseits das topmoderne High-End-Streaming-Gerät, mit dem er alles machen kann, was auf der digitalen Ebene im Bereich der musikalischen Reproduktion möglich ist: «So spiegeln sich 100 Jahre Technikgeschichte in einer Ecke meines Wohnzimmers.»
Die Sache mit der Bildung
Diese Geschichte mit den fehlenden Begabungen kann ich immer noch nicht ganz glauben … murmle ich halblaut und schüttle den Kopf, während mein Blick über die Wände füllenden Bücher und Platten schweift … ohne entsprechenden Unterbau ist das alles hier doch unmöglich vorstellbar.
«Es war aber so», bekräftigt der vermeintlich Unbegabte ernst. Der Vorkämpfer für die Bildung. Der Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Universitätsprofessor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Seine Ehrungen, Auszeichnungen und Publikationsnachweise lassen sich kaum aufzählen, in diesem Buch würden sie mehrere Seiten füllen. Sie reichen vom Wissenschaftler des Jahres (2006), über den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln (2003) zum Paul-Watzlawick-Ehrenring der Wiener Ärztekammer (2016), um nur wenige Beispiele herauszupicken. Sein aktueller Essayband heißt Bildung als Provokation (2017), mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier veröffentlichte er zuletzt das Buch Der werfe den ersten Stein. Mythologisch-philosophische Verdammungen (2019).
«Es ist doch bestimmt so: Eine Möglichkeit zur Selbstmotivierung liegt darin, nach etwas zu suchen, mit dem man alles das, was man nicht kann, ausgleichen kann. Reine