Konrad P. Liessmann. Marion Fugléwicz-Bren. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marion Fugléwicz-Bren
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783907126387
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hält kurz inne und vertieft sich sichtlich in eine Ebene der Erinnerung.

      «Ich muss aber gestehen, dass ein bestimmter Hang zur Philosophie dadurch bedingt gewesen sein mag, dass ich ein Kind war, das absolut keine Begabungen und Talente hatte. Kein sprachliches oder musikalisches – ich war überall durchschnittlich – wenn ich fleißig war, recht gut; wenn ich faul war, an der Grenze zu nicht genügend.»

      Ich kann im ersten Moment nicht glauben, was ich da höre, halte es erst für Koketterie, erkenne aber sehr schnell, wie authentisch und ehrlich das Gesagte gemeint ist:

      «Die Philosophie gab mir die Möglichkeit, etwas für mich zu entdecken, das imstande war, diese Begabungslosigkeit zu kompensieren», meint der Professor weiter.

      Wie konnte dann die Sprache des besonnenen und gewieften Rhetorikers mit der geistigen Durchdringungskraft so vollendet werden?

      Nun, das sei das Resultat eines mühsamen Prozesses der Auseinandersetzung mit der Sprache gewesen, konstatiert Liessmann, «in die Wiege gelegt war es mir wohl nicht».

      Vielleicht liege es daran, dass er etwa zeitgleich mit der Liebe zur Philosophie seine Liebe zur Literatur entdeckte, meint er, und jetzt blitzen seine Augen kurz auf. Er habe sehr viel gelesen, auch schon im Gymnasium, auch zeitgenössische Literatur – damals waren Thomas Bernhard und vor allem

      Peter Handke die wichtigsten intellektuellen Bezugspersonen für ihn, beides sehr sprachbewusste Autoren, die ihn darauf gestoßen haben mögen, mit Sprache sorgfältig und bewusst umzugehen. Etwa ab der sechsten oder siebten Klasse Gymnasium entwickelte er dann den Ehrgeiz, schöne Aufsätze zu schreiben. Leider war nur ein Jahr lang ein Lehrer an seiner Seite, der das anerkannte und förderte. Dass dieser nach einem schweren Unfall nicht weiter unterrichten konnte, war für den Gymnasiasten ein schwerer Schock.

      Wie war das kindliche Umfeld des Professors? Neben der großen Bibliothek? Welche Vorbilder gab es da?

      «Intellektueller Haushalt war das keiner», stellt er mit Bestimmtheit klar. Ich würde sagen, Kleinbürgertum, klassische Nachkriegs-Aufstiegssituation.

      Die Eltern waren beide die Ersten in ihren Familien, die Matura hatten, der Großvater väterlicherseits war Lokomotivführer gewesen, der Großvater mütterlicherseits wurde noch als Bauernkind von seinen verarmten Eltern an einen anderen Bauernhof «verkauft», lebte dort quasi wie ein Leibeigener. Das war am Ende des 19. Jahrhunderts. Und mit 15 Jahren sei der geknechtete Großvater schließlich nach Bosnien geflohen, weil er die Situation nicht mehr ertragen konnte. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg arbeitete er sich dann mühsam empor. Damit wurde er zum entscheidenden Vorbild für den jungen Konrad, weil er es geschafft hatte, sich von ganz unten hochzukämpfen. Alles, was er konnte und wusste, hatte er sich – ohne Ausbildung – selbst in Abendkursen und Arbeiterbildungswerken beigebracht und wurde später immerhin zu einem einflussreichen Beamten in der Villacher Stadtverwaltung. «Aber die Neugierde, die mein Großvater ausstrahlte, seine Haltung zum Wert des Wissens, die beeindruckte mich sehr.» Umso mehr, da man damals nicht – wie heute – Motivation verabreicht bekam, in kleinen Häppchen, schön didaktisch aufbereitet.

      Wer damals in der Monarchie aus einem kleinbäuerlichen Milieu kam, als 15-Jähriger ziellos umherwanderte, um einen Job zu finden und Erfahrungen zu sammeln, wer danach strebte, irgendwie weiterzukommen, war gezwungen, sich alles selbst hart zu erarbeiten, Kurse ausfindig zu machen und zu besuchen, zu lernen. Das beeindruckte und prägte den aufstrebenden Lernenden sehr: «Ich bin selbst ein gutes Beispiel – als erstes Akademikerkind in der Familie – eine Gegenthese zu der oftmals propagierten These, dass in Österreich die Bildung quasi vererbt wird: Weder ist mir der akademische Grad noch meinen Eltern die Matura vererbt worden, niemand wurde

      dahingehend gefördert, das war harte Arbeit und Anstrengung.»

      Im elterlichen Umfeld war es ein bisschen aufgeteilt gewesen, die Mutter hatte seit jeher eine starke Affinität zur Literatur gehabt und absolvierte später eine Ausbildung zur Bibliothekarin, konnte diesen Beruf allerdings nur kurz ausüben. Der Vater, geborener Deutscher, war in jungen Jahren musisch orientiert gewesen. Die Wirren des Krieges veränderten dann aber alles grundlegend, wie überall: Liessmanns Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft, konnte fliehen und blieb in Österreich hängen, heiratete dort die Mutter, eine Kärntnerin, die er zuvor nur flüchtig kannte, da sie ein Bibliothekspraktikum in Leipzig gemacht hatte, von wo der Vater ursprünglich herstammte.

      Nach dem Krieg musste er sich in einigen Berufen ausprobieren: «Legendär in unseren Familienanekdoten ist etwa, dass er als Hundeführer bei den englischen Besatzungssoldaten Hunde ausgebildet hat.»

      Später wurde er nach Abschluss einer Tischlerlehre Modelltischler, das heißt, er stellte für größere Vorhaben Modelle her, «wobei er sehr geschickt war» – damals gab es ja noch keine Computersimulationen. «Die gesamte Einrichtung unserer winzigen Wohnung hatte er nach dem Krieg selbst in Handarbeit gefertigt.» Später machte er eine Buchhaltungsausbildung und war in einer Steuerberatungskanzlei angestellt. Dadurch war er eher ökonomisch orientiert. Es wurde gelesen und Musik gehört, aber diese Impulse wie das nahe Verhältnis zur Literatur verdankt der spätere Philosoph seiner Mutter. Das erzählt der sonst sehr sachlich Orientierte mit einer nicht zu überhörenden Emotion, einer kleinen Zärtlichkeit in der Stimme.

      Liessmann wuchs als mittleres von drei Kindern – umgangssprachlich «Sandwichkind» genannt – auf, er hatte eine jüngere und eine ältere Schwester. Zu beiden hatte er immer ein sehr gutes Verhältnis, wobei er die ältere Schwester, eine ehemalige Kindergartenpädagogin, nicht allzu oft sieht, sie lebt in Deutschland. Die jüngere lebt in Kärnten, im Haus, das ihnen gemeinsam gehört. Sie sieht er daher öfter. Sie hat als Historikerin gearbeitet, musste aber krankheitshalber ihren Beruf aufgeben. Verheiratet ist sie mit einem Philosophielehrer, mit dem der Bruder sich – wenig verwunderlich – sehr gut versteht, nicht zuletzt, weil sie beide nicht nur die Leidenschaft für die Philosophie, sondern auch für das Rennrad teilen.

      Und wie war das mit Karl May?

      «Karl May war für mich – schon vor meiner Entdeckung der Literatur – die Rettung, durch ihn habe ich lesen gelernt.»

      In der Volksschule habe er das nämlich nicht ordentlich gelernt, erzählt er mir zu meinem großen Erstaunen – heute wäre er ein klarer Fall für die klassische Besorgnis: funktionaler

      Analphabet. Das sei nicht kokett, genauso sei es gewesen, beantwortet er meinen offensichtlich ungläubigen Blick. Daher kämen auch seine Vorbehalte gegen die moderne Didaktik –

      eigentlich schon seit er ein Kind gewesen sei. Man habe den

      armen Schüler damals mit einer neuen Lesemethode konfrontiert, die seinerzeit an den Volksschulen propagiert worden war – «nicht wie der heutige Unsinn, Lesen und Schreiben nach dem Gehör oder ähnlich, sondern mit der sogenannten «‹Blickwörter-Methode›». Man wollte davon abkommen, Lesen durch Buchstabieren zu erlernen, die Kinder sollten vielmehr immer gleich das ganze Wort erfassen. Dazu wurden Wortgruppen an die Tafel geschrieben – Zeit-, Eigenschafts- und Hauptwörter in verschiedenen Farben – gelb, grün, rot, dann bekamen die Schüler entsprechende Wörter vorgelegt, mussten sie ausschneiden und mit einem Blick die Bedeutung erfassen.

      Der kleine Konrad beherrschte diese Methode nicht, war total frustriert und bekam schlechte Noten. Und wieder kam die rettende Mutter ins Spiel: «Wenn sie mir nicht gegen den Willen der Lehrerin, die ihr das untersagt hat, die ‹alte Methode des Buchstabierens› beigebracht hätte, könnte ich heute weder lesen noch schreiben. Natürlich war mir das Lesen dadurch verleidet.»

      Die Deutschen Heldensagen und Karl May – heute dürfe man es gar nicht laut sagen, weil es politisch inkriminiert sei – haben den Schüler dann zum Lesen gebracht, weil ihn die Inhalte interessierten. Er vertiefte sich in diese dicken Bücher, «die Karl-May-Bücher vermittelten mir, was es heißt, ein dickes Buch zu lesen, was Spannung bedeutet und was es heißt, in ein Buch hineingezogen zu werden, Phantasie zu entwickeln, sich alles vorzustellen». Das Gesicht bleibt ernst, aber seine Augen lachen, während er das schildert.

      Die «Mythologie seiner selbst» und die Musik der wilden 1960er-Jahre