Pflegerisches Entlassungsmanagement im Krankenhaus. Klaus Wingenfeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Wingenfeld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170362468
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wodurch die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass es zu Komplikationen kommt. Ein erhöhtes Risiko poststationärer Komplikationen ergibt sich also immer dadurch, dass die dem Patienten zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht ausreichen, um die Belastungen, Probleme und Anforderungen, die nach der Krankenhausentlassung auftreten, allein zu bewältigen. Diese Sichtweise steht übrigens in Einklang mit der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs in der Pflegeversicherung, die seit 2017 verbindlich ist: Menschen benötigen pflegerische Unterstützung nicht, weil sie krank sind, sondern weil sie nicht über die Ressourcen verfügen, um gesundheitliche Probleme und ihre Folgen zu bewältigen.

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      Das initiale Assessment zielt im Grunde darauf ab, ein Ungleichgewicht zwischen Problemen/Anforderungen und Ressourcen aufzudecken, ohne sämtliche Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Kommt der Patient beispielsweise in dehydriertem Zustand im Krankenhaus an, so kann dies als Hinweis gelten, dass seine Ressourcen – einschließlich der Ressourcen seiner Umgebung – möglicherweise nicht ausreichen, um elementare gesundheitliche Anforderungen zu bewältigen. Dies gilt es dann im nächsten Schritt, d. h. mit dem differenzierten Assessment, näher zu prüfen.

      Kriterien für das initiale Assessment

      Es ist bei manchen Patienten schwer zu entscheiden, ob ein hohes oder niedriges Risiko vorliegt. Denn von Bedeutung sind hierbei viele Faktoren, die in unterschiedlichen Kombinationen auftreten können bzw. unterschiedlich zusammenwirken. Der Expertenstandard liefert in dieser Hinsicht keine eindeutige Definition, er benennt nur die wichtigsten Faktoren, die beim initialen Assessment berücksichtigt werden sollten. Dies ist auch sinnvoll, weil damit den Krankenhäusern und ihren Fachabteilungen die Möglichkeit bleibt, eine Lösung zu finden, die zur jeweiligen Patientenstruktur und den verfügbaren Ressourcen passt. Das bedeutet allerdings: Eine Klärung bzw. eine konkrete Definition der Kriterien, mit denen das Risiko poststationärer Komplikationen erfasst werden kann, ist beim pflegerischen Entlassungsmanagement immer erforderlich.

      Die Kriterien müssen insbesondere zwei Anforderungen erfüllen: Sie müssen genügend sensitiv sein, um alle Patienten mit einem erhöhten Risiko verlässlich zu erfassen. Sie müssen zugleich so definiert werden, dass ihre Verwendung ohne großen Zeitaufwand möglich ist. Komplizierte Einschätzungsmethoden oder umfangreiche Assessmentbögen haben im heutigen Krankenhausalltag keine Chance auf Verwendung. Im Idealfall wird ein Instrument genutzt, welches das Aufnahmegespräch mit dem Patienten oder seinen Angehörigen um nicht mehr als ein bis zwei Minuten verlängert. Weil alle Patienten im Hinblick auf poststationäre Risiken in den Blick genommen werden sollen (Screening), ist dieser Punkt von besonderer Bedeutung.

      Aufgrund vieler Forschungsergebnisse ist bekannt, welche Kriterien besonders wichtig und aussagekräftig bei der Risikoermittlung sind (vgl. dazu Wingenfeld 2005). Dazu gehören:

      • Ungeplante Wiederaufnahme: Ist beispielsweise bekannt, dass der Patient vor drei Wochen aus dem gleichen Krankenhaus entlassen und nunmehr ungeplant wiederaufgenommen wurde, so liegt ein erhöhtes Risiko für poststationäre Probleme vor.

      • Mehrfache Krankenhausaufenthalte innerhalb des letzten Jahres: Musste der Patient in der jüngeren Vergangenheit wiederholt im Krankenhaus behandelt werden, so ist das ein Zeichen für eine labile gesundheitliche oder eine labile Versorgungssituation. Unter diesen Umständen ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich auch nach dem aktuellen Krankenhausaufenthalt Probleme einstellen. Ähnliches gilt für das mehrfache Aufsuchen einer Notaufnahme.

      • Prästationäre Pflegebedürftigkeit: Menschen, die bereits im Vorfeld des Krankenhausaufenthalts (und unabhängig vom aktuellen Krankheitsereignis) auf pflegerische Unterstützung angewiesen waren, weisen ebenfalls ein hohes Risiko für poststationäre Probleme auf. Allein der Umstand, dass ein Patient einen Pflegegrad hat, ist ein verlässlicher Hinweis auf ein erhöhtes Risiko. Obwohl das Vorhandensein eines Pflegegrads bei der Patientenaufnahme meist leicht geklärt werden kann, wird diese Information in manchen Krankenhäusern leider nicht erfasst (oder erst spät, nachdem die Stellen für das Entlassungsmanagement eingeschaltet sind).

      • Kognitive Einbußen: Es liegt auf der Hand, dass Menschen, deren Wahrnehmungsfähigkeit und Denkprozesse beeinträchtigt sind, nicht ohne Unterstützung Krankheits- oder Therapiefolgen bewältigen können. Sie erkennen möglicherweise nicht, wenn eine gesundheitlich problematische Situation eintritt, oder wissen nicht, was sie dann tun sollen. Ist bekannt, dass ein Patient kognitive Einbußen hat, so ist auch dies ein hinreichender Anhaltspunkt für das Risiko poststationärer Komplikationen.

      • Psychische Problemlagen und Verhaltensauffälligkeiten: Hierfür gilt Ähnliches. Bei Menschen mit psychischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten ist ebenfalls zu vermuten, dass sie Schwierigkeiten haben, gesundheitliche und andere Probleme nach dem Krankenhausaufenthalt ohne Hilfe zu bewältigen.

      • Erhebliche Beeinträchtigungen der Mobilität/Motorik: Patienten, die bei der Fortbewegung auf Hilfen angewiesen sind oder Beeinträchtigungen der Grob- oder Feinmotorik zeigen, weisen ein allgemeines Handicap in der Bewältigung von Alltagsanforderungen, aber auch von besonderen krankheits- und therapiebedingten Anforderungen auf. Selbst einfache Handlungen, wie beispielsweise der Arztbesuch oder das Öffnen einer Tablettenpackung, können für diese Personen Probleme mit sich bringen. Ein erhöhtes Sturzrisiko kann ebenfalls daraus erwachsen.

      • Beeinträchtigung der Sinneswahrnehmung: Wer nur noch einen geringen Teil seiner Sehfähigkeit besitzt oder wessen Gehör stark beeinträchtigt ist, kann ggf. große Schwierigkeiten haben, die Probleme und Anforderungen nach dem Krankenhausaufenthalt selbständig zu bewältigen. Auch die davon betroffenen Menschen gehören zu den »Risikogruppen«.

      • Hohes Alter: Viele Forschungsergebnisse zeigen, dass ältere Menschen ein deutlich höheres Risiko poststationärer Komplikationen tragen als jüngere. Allerdings ist nicht definiert, was mit »hohem Alter« gemeint ist. Forschungsergebnisse setzen die Grenze häufig beim Alter von 65 Jahren an. Dies ist allerdings nicht zwingend. Es ist ebenso denkbar, andere, höhere Grenzen anzusetzen.

      • Geringes Alter: Ebenso gilt, dass Kinder auf Unterstützung angewiesen sind. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist aber wichtig dafür, dass in solchen Fällen verstärkt die Situation der Eltern in den Blick genommen wird. Ihnen bzw. ggf. anderen nahen Bezugspersonen kommt die Aufgabe zu, anstelle der Kinder die Bewältigungsarbeit zu übernehmen.

      • Voraussichtlich andauernde, hohe Anforderungen und Belastungen: Bei Patienten, bei denen absehbar ist, dass eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik auch nach der Krankenhausentlassung weiter anhält, ist ebenfalls überdurchschnittlich häufig mit Komplikationen zu rechnen. Vergleichbares gilt für andere Belastungen, die mit einer Erkrankung oder den Therapiefolgen zusammenhängen, beispielsweise häufige Übelkeit oder andauernde Erschöpfungszustände. Besondere pflege- oder therapiebedingte Anforderungen gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Allerdings ist bei ihnen nicht eindeutig zu definieren, wie hoch die Anforderungen sein müssen, um von einem Bedarf an Unterstützung ausgehen zu können. Dies bleibt dann der weiteren, differenzierteren Einschätzung vorbehalten. Auch hier ist zu berücksichtigen, dass mitunter die Belastungen weniger die Patienten selbst als die Angehörigen tragen. Zum Teil ist es hilfreich, die jeweils vorliegende Erkrankung als Hinweis auf das voraussichtliche Andauern von Belastungen und Anforderungen zu verwenden (oder die anstehende Therapie). Bei bestimmten Erkrankungen, etwa einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt oder Tumorerkrankungen, ist die Frage nach der Schwere von Belastungen und Anforderungen leicht zu beantworten. Gleiches gilt für therapeutische Prozeduren wie Herzoperationen, Transplantationen oder eine Chemotherapie. In vielen Fällen liegen die Dinge jedoch weniger klar auf der Hand.

      • Prekäre Lebens- oder Versorgungssituation: Damit sind wohnungslose Patienten ebenso angesprochen wie Patienten aus instabilen sozialen Lebensverhältnissen. Auch wenn es offensichtliche Hinweise auf prästationäre Versorgungsdefizite gibt, ist von einem erhöhten Risiko poststationärer Komplikationen auszugehen.

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