Aelia, die Kämpferin. Marion Johanning. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marion Johanning
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958130302
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Stadttor, hörte die Stimmen der Soldaten von ferne zu ihr herüberklingen. Sie spürte ihren Leib nicht mehr, als sei er abgetrennt von ihrem Geist, aber auch ihr Geist arbeitete nicht mehr wirklich. Er bestand nur noch aus einer kleinen Flamme, die ihn erfüllte: Über­lebenswillen.

      Als der Wachwechsel vollzogen war, verließ Aelia die Ruine. Sie versteckte das Schwert und stapfte über hohes Gras und Mauerreste tiefer ins verfallene Viertel hinein, wo Schafe und Ziegen in Bretterverschlägen eingepfercht auf den Frühling warteten. Sie folgte dem Geruch nach Eintopf. An der tiefsten Stelle, dort, wo die Stadtmauer fast bis an den Fluss heranreichte, stand ein großes, aus rötlichem Stein erbautes Gebäude, das anders aussah als die üblichen Häuser.

      Es war lang gestreckt, größer als ein normales Haus und als einziges in der Umgebung noch erhalten. Es besaß ein vollständiges Ziegeldach, eine einfache Holztür und Fensterluken, die mit Schweinsblasen bespannt waren. Ein gepflasterter Hof mit mehreren alten Brennöfen deutete darauf hin, dass es einst eine der zahlreichen Töpfereien des Viertels gewesen war. Nun gab es einen Hühnerstall auf dem Hof und einen Holzpferch mit mehreren Ziegen. Aus der angelehnten Tür drang der Geruch nach Fleischbrühe, der Aelia fast den Verstand raubte. Sie hielt eine Hand vor ihren schmerzenden Magen, während sie langsam die Tür öffnete. Sie kam in einen großen, hallenartigen Raum mit einer hohen Decke, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Darum herum kauerten etwa fünfzig Menschen auf Schafsfellen. Eine Frau stand an einem großen Topf, der über dem Feuer hing, und verteilte Suppe in Holzschalen. Sie stockte, als sie Aelia bemerkte.

      Langsam schlich Aelia durch die Halle. Ihr schwindelte, fast glaubte sie, fallen zu müssen, weil ihre Beine ihr den Dienst versagten. Ihre Zunge klebte trocken am Gaumen, ihr Herz pochte ungewöhnlich schnell, als wollte es seine besondere Stärke beweisen, und in ihrem Kopf klopfte es im gleichen Takt. Sie sah, wie die Menschen sie anstarrten, fühlte abschätzende Blicke auf ihrer Gestalt, ihrem haarlosen Kopf, ihrer Kleidung, die unter der mottenzerfressenen Decke hervorlugte. Es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, sie betrachtete ihrerseits die Menschen, als sie sich ihnen langsam näherte, und in einem Winkel ihres Hirns, das vom Hungern eine ungewöhnliche Klarheit bekommen hatte, erkannte sie die Gier hinter den Blicken, die Krankheit hinter einigen trüben Augen, die mütterliche Sorge um ein mageres Kind an der Brust, Neugierde und Angst.

      »Was willst du hier?« Die junge Frau ließ ihre Kelle sinken.

      Aelias Lippen formten das Wort, aber es verließ nicht mehr ihren Mund. Sie streckte die Hand aus, aber es war nicht viel mehr als eine schlaffe Bewegung. Gerade noch merkte sie, wie ein Vorhang vor ihre Augen gezogen wurde, als sie den Halt verlor und ins Nichts stürzte.

      Als sie erwachte, dämmerte es bereits. Durch ein Fenster fiel trübes Licht auf einen festgestampften Lehmfußboden. Als ihr Blick sich lichtete, erkannte Aelia ein langes Leinentuch, das, über eine Schnur gehängt, die Ecke, in der sie lag, vom restlichen Raum trennte. Sie selbst lag auf einem Lager aus Schafsfell unter ihrer schmutzigen ­Decke. Darunter war sie nackt.

      Erschreckt fuhr sie hoch, doch ein pochender Schmerz in ihrem Kopf zwang sie wieder zurück. Sie atmete tief. Eine benutzte Holzschale neben ihrem Lager und der Zustand ihres Magens deuteten darauf hin, dass man ihr etwas zu essen gegeben hatte. Ja, sie erinnerte sich, eine Frau hatte ihr etwas von der Fleischbrühe eingeflößt. Sie spürte, dass jemand in der Nähe war – ein Kleinkind krabbelte um sie herum. Es richtete sich mit wackligen Beinen auf und sah sie mit großen Augen an.

      Aelia stöhnte. Das konnte nicht wahr sein! Man konnte sie nicht einfach ausgezogen und ihre Kleider gestohlen haben. Sie streckte die Beine aus, tastete mit den Zehenspitzen nach etwas, das sich wie ihr Gewand anfühlte, aber da war nur das Schafsfell.

      Das Kind geriet ins Straucheln, kippte nach hinten und fiel auf sein Hinterteil. Es verzog sein Gesichtchen und begann zu weinen. Die Mutter erschien; jene Frau, die die Suppe verteilt hatte. Sie hob das Kind auf, wobei ihr Blick auf Aelia fiel.

      »Oh, du bist wach! Ich rufe …«

      »Nein!«, stieß Aelia heiser hervor. »Wo ist mein Gewand? Wer hat meine Schuhe gestohlen?«

      Ihre kalten Fußsohlen streiften über das Schafsfell, auf dem sie lag.

      Die junge Frau rührte sich nicht. »Niemand kann hier ohne Bezahlung etwas bekommen.«

      »Ach ja? Mein Gewand reicht für mindestens drei Wochen fette Mahlzeiten für euch alle! Und meine Schuhe noch mal für eine! Sie brächten mindestens eine siliqua auf dem Markt!«

      Nervös ließ die junge Mutter ihr Töchterchen auf ihrem Arm auf und ab wippen. »Ich habe dir zu essen gegeben. Du kannst froh sein, dass du noch lebst. Du warst fast verhungert.«

      Aelia gab einen unwilligen Laut von sich.

      In diesem Augenblick wurde der Vorhang beiseitegeschoben, und ein Mann erschien. Er war älter und kleiner als die junge Frau und hatte die gleichen Augen und dunklen Locken wie das Kind, nur dass sie bei ihm mit Silberfäden durchwirkt waren. Er trug eine saubere Wolltunika, die von einem breiten Ledergürtel gehalten wurde, über schlichten Beinkleidern. Das Kind krähte, als es ihn sah, und streckte die Ärmchen nach ihm aus. Lächelnd nahm er es auf seinen Arm.

      »Willkommen in meinem Haus!«, begrüßte er Aelia. »Du hast es richtig gemacht, hierherzukommen, denn draußen kann niemand auch nur eine Woche überleben. Spätestens wenn die Soldaten ihre Hunde hier durchhetzen, ist es aus für Entflohene wie dich.«

      Aelia schluckte. Sie hatte immer noch Durst.

      »Wo sind meine Kleider?«

      Der Mann überhörte ihre Frage. »Es hat seine Vorteile, sich dem guten Bassus anzuschließen! Er sorgt für seine Familie besser als der Bischof. Hier gibt es keinen Streit, sie haben alle zu essen und ein Dach über dem Kopf. Also, wer hat dir den Wink gegeben, hierherzukommen? Wer war’s?«

      Aelia wusste nicht, was sie sagen sollte. »Niemand.«

      Bassus trat einen Schritt nach vorn und schaukelte das Kind auf seinem Arm. Er lächelte.

      »Nun, meine Liebe, ich bin kein junger Mann mehr, wie du siehst. Im Laufe der Jahre habe ich viel mitgemacht. Ich musste erleben, wie die Barbaren unser Stadtviertel niederbrannten, nachdem sie es geplündert hatten. Ich musste mit ansehen, wie unsere Stadt sich von einer schönen Frau in ein altes, geschändetes, widerwärtiges Weib verwandelte. Ich habe gesehen, wie ehrbare, gute Menschen starben und die anderen sich in gemeine Hunde verwandelten, um zu überleben. Diese Augen«, er deutete mit zwei Fingern auf sein Gesicht, »können mehr erkennen und tiefer sehen, als jedes junge Gänschen hier glaubt. Also: Wer hat dich zu uns geschickt?«

      »Niemand. Es hat nach Suppe gerochen, und ich hatte Hunger.«

      Der Mann starrte sie an. Sein Gesicht verzog sich, als wollte er fluchen, dann entschied er sich anders und stieß ein trockenes ­Lachen aus. »Du bist also einfach hierhergekommen und dachtest, beim ­Bassus riecht’s gut, da frage ich nach einer Suppe!«

      Er lachte wieder. Das kleine Mädchen auf seinem Arm lachte mit und zupfte an seinen Haaren.

      »Ich wusste nicht, dass ihr hier lebt. Der Hunger trieb mich.«

      Bassus wurde wieder ernst. Er zog das Ärmchen des Kindes aus seinen Haaren und trat einen Schritt heran. »Warum glaubst du, dass man hier ungefragt hereinspazieren darf?«

      Aelia presste sich tiefer in die Decke. Etwas an dem Mann gefiel ihr nicht. »Deine Mildtätigkeit oder auch … Großzügigkeit. Nenn es, wie du willst. Keiner, der ein Herz hat, schlägt einer Hungernden einen Napf Suppe ab.«

      Bassus grinste, in seinen Augen lag ein boshaftes Glitzern.

      »Ah, du bist noch jung und gutgläubig. Du kennst die Verderbtheit der Menschen noch nicht. Nun, du hast Glück, bei uns zu sein. Wir haben ein Herz und geben dir Suppe. Wenn du Glück hast, bekommst du noch mehr davon.«

      Er stupste das Kind am Näschen. »Aber du sollst wissen – Iulia oder Livia oder wie immer dich dein Herr genannt hat, dem du entflohen bist –, ich werde dich Iulia nennen. Du sollst wissen, Iulia, dass hier nichts umsonst ist.«