In Betrieben und Konzernen, in denen viele Fachleute zusammenarbeiten, werden eigene Gremien konzipiert und besetzt, welche die einzelnen Untergruppen bzw. Aufgabenbereiche spiegeln sollen: Finanzen, Marketing, Konstruktion, Personal.
Überall in solchen aus vielen formellen und informellen Gruppen aufgebauten Organisationen treten Rivalitäten auf und überschneiden sich Einflussbereiche. Während an der Spitze noch „alte“ Verhältnisse gespiegelt sind, hat sich die Basis erheblich verändert. Jene Gruppe, welche diese Veränderung trägt, kämpft irgendwann darum, auch an der Spitze stärker gespiegelt zu werden, da sonst an ihren Interessen vorbei entschieden wird.
Ein Beispiel sind die Laientheologen in der katholischen Kirche. In einem Bistum werden jährlich noch zwei Priester geweiht, gleichzeitig aber zehn Laientheologinnen und Laientheologen eingestellt. Diese sind akademisch ebenso qualifiziert wie Priester, können sich aber nicht zum Zölibat entscheiden. Sie werden in der Gemeindearbeit, in der Jugendarbeit, im Bildungsbereich und in der Klinikseelsorge eingesetzt.
Im Führungsgremium des Bistums, dem Domkapitel, dem der Bischof vorsteht, werden die Laientheologen dem Generalvikar zugeordnet, dessen Funktion der des Personalchefs in einem Betrieb entspricht. Die geweihten Priester sind daneben noch durch mehrere Domkapitulare vertreten, die für Seelsorge und liturgische Fragen zuständig sind, während die Laientheologen, deren Zahl ständig wächst und die in den jüngeren Jahrgängen der theologischen Funktionsträger längst in Überzahl sind, sich sozusagen nur in einem Bruchteil (den sie relativ klein einschätzen) des Generalvikars im Domkapitel gespiegelt fühlen. Irgendwann hat ein Laientheologe ausgerechnet, wie viel Geld für die Fortbildung seiner Gruppe ausgegeben wird und welche Kosten die Fortbildung und Betreuung der geweihten Priester verursacht. Das Missverhältnis ist krass.
Dabei stellt sich auch heraus, dass für das bistumseigene Priesterseminar, das in den letzten fünf Jahren jährlich ein bis zwei Priester ausbildete, nach wie vor ein Regens und ein Subregens beschäftigt werden, zwei hochbezahlte Fachleute, deren Stellen eingerichtet wurden, als noch jedes Jahr die Weihe von zwanzig neuen Priestern anstand.
Solche Situationen wirken auf den ersten Blick absurd, verraten auf den zweiten aber viel über die Beharrungskraft von religiös geprägten Hierarchien, die – anders als wirtschaftlich orientierte – den Druck einer veränderten Realität länger neutralisieren können und zäh an dem Überkommenen festhalten. Wir müssen uns nur fragen, wie lange ein Automobilkonzern eine Unterabteilung finanzieren würde, in der mit demselben Personal wie vor zwanzig Jahren zehn Prozent der damaligen Produktivität geleistet werden.
Man kann einwenden, dass es in einer Kirche um anderes geht als um wirtschaftliche Rationalität. Das ist richtig, aber auch eine religiöse Einrichtung lässt sich danach beurteilen, wie professionell sie arbeitet, wie viel von ihren Zielen sie mit den eingesetzten Mitteln erreicht und wo diese Mittel sinnvoller eingesetzt werden könnten als bisher.
Ein anders Beispiel über die Beharrungskräfte einer Hierarchie kommt aus der britischen Armee. Irgendwann fiel einem Beobachter auf, dass dort beim Abfeuern einer Kanone neben den mit Einrichten, Laden und Zielen beschäftigten Soldaten zwei Männer strammstanden, deren einzig Funktion es zu sein schien, beim Abfeuern des Geschützes Haltung anzunehmen. Der Beobachter fragte nach, was denn diese beiden Männer für eine Aufgabe hätten. Die erste Antwort war, es sei Vorschrift, sie seien schon immer so dagestanden. Genauere Nachforschung ergab nun, dass diese beiden Männer früher, als die Artillerie noch von einem Vierergespann in Stellung gebracht wurden, eine wichtige Funktion hatten. Sie mussten die Pferde festhalten, die beim Lärm der Explosion sonst durchgegangen wären. Der Dienstvorschrift war entgangen, dass motorisierte Zugmaschinen lärmunempfindlich sind.
Bewegung und Beharrung in Institutionen
Dieses Beispiel zeigt, wie in einer Institution Strukturen fortbestehen, die ihren Sinn eingebüßt haben. Wir verstehen solche Beharrungskräfte besser, wenn wir uns ein menschliches Grundbedürfnis klarmachen: Sicherheit zu gewinnen und Angst zu vermeiden. Da die menschliche Kultur unsere innere Struktur formt, reagieren wir mit heftigen Ängsten, wenn wir die Kontrolle über kulturelle Veränderungen verlieren. Schon immer haben Demagogen (heute: populistische Politiker) mit solchen Ängsten gespielt und versprochen, dass sie ihre Anhänger gleichzeitig vor dem verwirrenden, störenden Neuen schützen und von den Einschränkungen und Defiziten der Gegenwart befreien würden.
Der Antisemitismus beispielsweise wurzelt in den Ängsten vor einer „Überfremdung“, die pseudobiologisch als Angst vor fremdem, bösen Blut formuliert wird, das die gesunden Wurzeln des eigenen Volkes verdirbt. Wer einer anderen Religion oder Sprachgemeinschaft angehört, ist nur dann interessant, wenn ich selbst bestimmen kann, wie nahe er mir und ich ihm komme. Wenn er in meinen Bereich eindringt, fühle ich mich bedroht – ich kann ihn nicht einschätzen, er macht mein Leben unübersichtlich und weckt Ängste. Je mehr Fremdes eindringt, je labiler die Verlässlichkeit der eigenen Werte erlebt wird, desto angespannter ist die Situation. Die Gefahr, gewaltbereit primitiven Vorurteilen zu folgen, nimmt zu.
Wenn wir dieses Modell auf die persönliche Auseinandersetzung mit Institutionen übertragen, erkennen wir auch, wie wichtig es ist, den eigenen Platz zwischen Beharrung und Bewegung zu erkennen. Wenn ich beispielsweise als Sozialpädagoge meinen ersten Arbeitsplatz in einem Jugendamt finde, in dem mein Vorgesetzter ebenfalls Sozialpädagoge ist und ich in einem Team mit Verwaltungskräften, einem Psychologen und einem Juristen arbeite, dann komme ich in eine Einrichtung, die mit mir und mit der ich umgehen kann. Da allen die Tätigkeit, Ausbildung und Rolle eines Sozialpädagogen vertraut ist, entstehen auch wenig Unsicherheit und latente Angst.
Der erste Sozialpädagoge in einem Gymnasium, das diese Stelle auf Anweisung des Kultusministeriums einführen musste, muss sich auf Unsicherheit und Angst in der Institution vorbereiten. Dort gab es bisher nur zwei große Gruppen, die Lehrer und die Schüler. Die Lehrer sind einerseits hierarchisch, anderseits nach Fachgruppen organisiert – schließlich kann nur ein Biologe die Arbeit eines Biologielehrers bewerten, nicht ein Altphilologe, auch wenn dieser Studiendirektor ist. Der Sozialpädagoge hat in diesem System zunächst keinen Platz, er ist allein.
Er soll mit schwierigen Schülern arbeiten, Elterngespräche führe, Drogenmissbrauch und Gewalt vorbeugen. Offiziell wir sein Kommen gefeiert, latent, sozusagen im Unbewussten der Institution stört er, weil er Unsicherheit erzeugt. Auf ihn richten sich Erlösererwartungen, in denen sich Entwertungswünsche verbergen können: Wenn er nicht diesen Störer durch ein einziges Gespräch zum braven Pennäler macht, was ist dann seine Spezialausbildung wert?
Jede große Gruppe wird versuchen, ihn sich entweder anzugleichen oder ihn auszustoßen. Wenn er geduldig den Beschwerden der Schüler über einen unfähigen Lehrer zuhört, gilt er als Verbündeter der Störenfriede; wenn er einen Schüler mit dessen dissozialen Einstellungen konfrontiert, beschimpft ihn dieser als Handlanger des Direktorats. Es wird dem Sozialpädagogen erschwert, die Konturen seiner beruflichen Rolle zu finden, weil es in seiner institutionellen Umgebung keinen Halt für ihn gibt. Er muss selbst herausfinden, was sein professioneller Platz ist, wie er seine Arbeit organisieren kann, mit welchen Eltern, Lehrern und Schülern er kooperieren kann.
Das hat keineswegs nur Nachteile; es öffnet auch Freiräume, die dort nicht existieren, wo – wie im Jugendamt – die Aufgabe in einem Team festgelegt, organisiert und überwacht wird. Teams halten, stützen und ergänzen, aber sie engen auch ein; Einzelkämpfer sind einsam, aber sie haben Freiräume und können selbst Führung übernehmen.
Die erste Begegnung mit einer Institution
Die erste Begegnung, in der eine wechselseitige „Einstellung“ der Beteiligten aufeinander noch nicht möglich war, lässt oft Erscheinungen auftauchen, die sich später nicht mehr wiederholen und deren Informationsgehalt verloren geht, wenn sie nicht beachtet