Die Geburt der Hierarchie
In der sogenannten „neolithischen Revolution“ wurden die schweifenden Jäger und Sammlerinnen sesshaft. Dieser Prozess begann in den fruchtbaren Flusstälern Afrikas und Asiens – am Nil, am Euphrat und Tigris, am Indus, Ganges und Yangtsekiang. Er dauerte einige Jahrtausende und veränderte bis heute das Gesicht der Erde, ebenso wie die industrielle Revolution, in der die moderne Gesellschaft entstand. Beiden Veränderungen ist auch gemeinsam, dass sie die Kulturen an den Rand drängten, die nicht an ihnen teilhaben konnten.
Ackerbau und Viehzucht verändern die Gesellschaft stark. Während den Jägern und Sammlern Grundbesitz bedeutungslos ist, wird er dem Ackerbauern unendlich wichtig und eine Quelle von Streit, der wiederum nach Institutionen verlangt, ihn zu schlichten. Die wirtschaftlichen Rituale der Jäger und Sammlerinnen sind vor allem Rituale des Teilens – Schwangere und Kinder werden bevorzugt, Verwandte müssen bedacht werden, wer den Pfeil geliehen, die Spitze geschärft, die Beute zuerst gesehen hat, bekommt seinen Anteil.
Die ökonomischen Rituale der Ackerbauern betreffen vor allem die Abgrenzung und sehr bald die Hierarchie: Wer ein Stück Land besitzt und bebaut, ist frei und sein eigener Herr. Wer kein Land besitzt, ist unfrei und muss für einen Herrn arbeiten. Für den Hirten sind Herde und Weiderecht, was dem Ackerbauern das Feld ist. Damit geraten auch große gesellschaftliche Gruppen in aggressive Auseinandersetzungen, die zuvor nicht denkbar waren. Die älteste davon ist der Streit zwischen Kain und Abel, zwischen dem Ackerbauern und dem Hirten. Es ging hier ursprünglich nicht um das göttliche Wohlgefallen für den einen oder den anderen (die Bibel wurzelt in den Überlieferungen von Hirten-Nomaden), sondern um eine ökonomische Auseinandersetzung. Wenn eine Herde seine Felder kahl frisst, ist der Bauern vom Hunger bedroht und wird sich mit allen Mitteln wehren.
Die feste Zuordnung von Land spiegelte sich in der sozialen Organisation. Es musste eine feste, autoritäre Struktur geben, die die Besitzverhältnisse regelte und verteidigte. Kleine, weit verstreute Gruppen von Ackerbauern konnten noch, wie etwa die isländischen Siedler, mit einer relativ einfachen Struktur auskommen, in der es freie Bauern und leibeigene Knechte gab. Die Bauern regelten alle Streitigkeiten auf der gemeinsamen Versammlung, dem Thing; wer gegen das Thing verstieß, wurde geächtet, d. h. er wurde rechtlos und konnte von jedem getötet werden.
In dichter besiedelten Gebieten, vor allem in denen, wo künstliche Bewässerung eine genaue Verteilung nicht nur von Landsondern auch von Wasserrechten erforderte, mussten die Kulturen straffere Organisationen ausbilden. Es entstanden die ersten Königreiche, in denen schnell die Doppelgesichtigkeit der Macht deutlich wurde: Um Gerechtigkeit zu sichern und den Besitz der eigenen Gruppe nach außen zu verteidigen, mussten große, straff organisierte Gruppen von Kämpfern gebildet werden, die – anders als die Krieger der Jägerkulturen – unabhängig von Lust und Laune in die Schlacht zogen.2
Solche Kriegerheere entwickeln eine Eigendynamik, sie wollen nicht nur verteidigen, sondern sie müssen auch erobern, um Land für die Versorgung der verdienten Kämpfer zu gewinnen. Das Sprichwort vom Angriff, der die beste Verteidigung sei, ist ein Erbe dieser Epoche, die auch Feudalzeit genannt wird, weil in ihr der Feudalherr, der Besitzer eines im Kampf erworbenen Rittergutes die bestimmende Gestalt war.
Die Institution der Hierarchie ist bis heute ein zentrales Element im Aufbau der Gesellschaft. Sie kann ihre militärischen Ursprünge nicht verleugnen. Da die Wehrhaftigkeit überlebenswichtig war, um nicht der Gier eines Nachbarn zu erliegen, wurden (und werden bis heute) in militärischen Hierarchien, die für die soziale Ordnung seit dem Neolithikum beispielgebend sind, auch krasse, oft rücksichtslose und brutale Mittel eingesetzt, um den Soldaten bei der Stange zu halten – einer Stange, die eine geschliffene Spitze trug und die wichtigste Waffe der frühen Kriegerkulturen war: die Lanze.
Die ersten Hierarchien spiegeln die Notwendigkeit, sich im Kampf zu organisieren. Die Möglichkeit, Überschüsse an Nahrung zu erzeugen und damit größere Menschengruppen längere Zeit beieinander zu halten, erzwang auch geordnete, große Gruppen, um diese Vorräte zu verteidigen. Jäger und Sammler können solche Kriege nicht führen; es gibt bei ihnen wenig zu erbeuten und macht dort wenig Sinn, Sklaven zu halten.
Die kulturelle Evolution spiegelt die biologische: Erfolgreiches setzt sich durch und verdrängt jene, die der Konkurrenz nicht standhalten können. Keine unorganisierte Gruppe von Jägern und Sammlern kann auf Dauer einer disziplinierten und hierarchisch aufgebauten Truppe widerstehen, die den Kampf wie ein Handwerk gelernt hat und einheitlich mit durchdachten und erprobten Menschentötungswerkzeugen ausgerüstet ist. Möglich ist allenfalls ein Guerillakrieg, der aber nur dann geführt werden kann, wenn der militärisch überlegene Feind bereit ist, die Frauen und Kinder der Guerillakämpfer zu schonen. Das haben die frühen Krieger der Feudalzeit meist nicht getan.
Die Hierarchie enthält immer eine Befehlskette und Rollenvorschriften, wie mit dem jeweils Vorgesetzten umzugehen ist. Seit dem Beginn der geschriebenen Geschichte gab es die Führer einer überschaubaren Gruppe (Unteroffiziere), einer größeren Kampfeinheit (Centurio, Lagerkommandant, Leutnant), einer großen Kampfeinheit (Tribun, Oberst) und den Oberbefehlshaber (General). Jeder höhere Rang hatte Befehlsgewalt über jeden niedrigeren, musste diese aber so ausüben, dass er die Autorität der Unteranführer schützte, die schließlich ihre Leute persönlich kannten und am besten mit ihnen umgehen konnten.
Sobald eine Organisation so groß ist, dass nicht mehr jeder jeden persönlich kennt, wird es in einer Hierarchie notwendig, den Rang des Einzelnen zu symbolisieren. Wappen, Helmbüsche, Schilder und Rangabzeichen entstanden in Zeiten, in denen die Mehrzahl der Menschen noch nicht lesen konnte.
Wie zählebig Traditionen gerade in hierarchischen Systemen sind, lässt sich auch im Fortbestehen solcher analphabetischer Geltungszeichen erkennen. Immer noch ist ein Dreisternegeneral in der amerikanischen Armee ranghöher als ein General mit zwei Sternen, tragen Kardinäle in der katholischen Kirche andere Farben als einfache Bischöfe oder der Papst. Oft wurde genau geregelt, in welcher Form der jeweils Ranghöhere gegrüßt und anderweitig mit Ehrerbietung versorgt werden muss. (So ist es bis heute ein militärisches Ritual, dass der Rangniedere in Anwesenheit des Ranghöheren Haltung annimmt und strammsteht, bis er aufgefordert wird, bequem zu stehen).
Auch heute werden in den meisten Büros die Angestellten anders sitzen und sprechen, wenn ein Vorgesetzter anwesend ist, und die Größe des Büros, die Marke der Armbanduhr, des Anzugs und des Dienstwagens, signalisiert, wer Vorrang beansprucht.
Psychologische Aspekte der Hierarchie
Seit es Hierarchien gibt, wird auch diskutiert, ob sie durch Furcht oder durch Liebe funktionieren sollen. Die so viel schönere Vorstellung vom Gehorsam aus Liebe wurde schon früh durch das angeblich realistischere Prinzip der Macht durch Angst infrage gestellt. „Mögen sie mich hassen, solange sie mich fürchten“ soll der römische Kaiser Caligula gesagt haben.
Macchiavelli, einer der ersten Autoren, die versucht haben, den Fragen der Macht systematisch und rational nachzugehen, widmet in seinen Untersuchungen zur Dynamik der guten Regierung