Die übrigen Gäste konnten nun zwar sehen, dass sie sich stritten, aber sie würden nicht erfahren, worüber.
»Ich freue mich wirklich, ist doch ein klasse Geschenk!« Taso würde sich keine Mühe mehr geben, die Situation noch zu retten. Peters Verhalten und seine Anschuldigungen waren einfach lächerlich.
Peter schwang sein wieder volles Cocktailglas durch die Luft, sodass es überschwappte. »Red nicht so blöd daher, du kannst vielleicht den Würfel verarschen, aber nicht mich. Ich weiß, was du denkst!«
»Was denk ich denn, Klugi?« Peter hatte es schon als Kind gehasst, wenn Taso ihn so genannt hatte.
Peter wurde rot im Gesicht. »Dass wir Kontrollfreaks sind, keinen Respekt vor deiner Privatsphäre haben und blind jedem Trend hinterherrennen – es ist doch immer dieselbe Leier!« Peter strengte sich sichtlich an, klar zu sprechen. »Aber alle Eltern schalten sich in die Smarts ihrer Kinder ein. Und diese ›Trends‹ sind die Zukunft! Bleib du ruhig so ignorant und einsam in der Vergangenheit hocken wie Mama und Simon!«
Taso war sprachlos. So hatte sich Peter noch nie aufgeführt. Es kostete ihn alle Kraft, nicht vor den Augen des Würfels auszurasten. Mühsam presste er ein paar Worte heraus. »Ach Quatsch, ich freue mich, dass ihr so auf eure Kinder achtet.« Er versuchte, keine Miene zu verziehen, wagte aber nicht, Peter ins Gesicht zu sehen. Das hätte auch sein eigenes Fass zum Überlaufen gebracht.
Peter kam noch näher. »Anstatt hier dumme Sprüche zu klopfen, könntest du die Peds wie jeder normale Mensch einfach wegsmalen, wenn sie dich stören, und wir könnten wie früher zusammen feiern und uns ganz normal unterhalten. Stattdessen streiten wir schon wieder, weil du dich von irgendwelchem Spielzeug verrückt machen lässt. Und nicht mal das machen wir richtig, weil du nie einfach sagst, was du denkst, sondern mich immer mit dieser Maske abspeist.« Taso sah Peter wieder in die Augen, die nun einen traurigen Glanz hatten. »Wie eine verdammte Statue, die zwar so aussieht wie mein Bruder, mir aber fremder ist als jeder andere hier. Wer bist du überhaupt?«
Taso schüttelte den Kopf. Er brodelte vor Wut, andererseits machte ihn die Fassungslosigkeit seltsam ruhig. Wie konnte sein eigener Bruder die Realität nur so verdrehen? Er musste sich wehren. Er musste Peter zeigen, dass er zu weit gegangen war.
Betont gelassen zog er seine Münze aus der Tasche. Er wusste, dass Peter ihn insgeheim immer um sie beneidet hatte, oder vielleicht eher um sein besonderes Verhältnis zur Großmutter. Mittlerweile hasste Peter das kleine Metallstück geradezu. Wie erwartet weiteten sich seine Augen sofort. »Das ist nicht dein Ernst!«
Taso warf die Münze in die Luft und fing sie wieder auf. Kopf. Er steckte sie zurück in die Tasche und sah seinen Bruder stumm an. Den Streit hatte er gewonnen, das spürte er, aber das Triumphgefühl blieb aus.
Als Yasin sich an seine Mutter schmiegte und wissen wollte, was los war, tat Taso das, was er schon viel früher hätte tun sollen: Er verließ die Wohnung.
Draußen ließ er sich von seinen Füßen nach Hause tragen. Er fühlte sich elend und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Erst das Blinken einer neuen E-Mail holte ihn zurück in die Gegenwart. Tim hatte sich gemeldet. Taso las die Nachricht und atmete sogleich etwas leichter. Morgen klappt.
3
Um den Würfel abzuschütteln, nahm Taso wie immer einen kleinen Umweg über das nächste Kryptocenter. Es befand sich nicht weit von seiner Wohnung in einem ehemaligen Hotel. Dort würde er sich mit anderen Offlinern mischen, damit der Würfel nicht wissen konnte, dass er nach Diagon Alley weiterzog.
Er ging den Fußweg dorthin immer bewusst langsam. Nicht, weil die Strecke so schön war, sondern weil er es dem Würfel gern unter die Nase rieb, dass er gleich von seiner Bildfläche verschwinden würde. Als er das »Krypto One« erblickte, lächelte er. Vom früheren Hotelnamen war an der Front nur der zweite Teil übrig geblieben. Mit seinen heruntergelassenen Rollläden wirkte es wie eine Festung. Für Taso war es einer der schönsten und erhabensten Bauten der Stadt.
Er grüßte den Hausmeister, der gerade ein an die Wand gespraytes »Schmarotzer!« entfernte, und trat durch eine abgedunkelte Schiebetür in die Lobby. Im Inneren des Gebäudes war es kühl, aber das störte ihn nicht.
Du hast eine Würfelfreie Zone betreten und bist jetzt offline.
Vollkommene Stille umgab ihn, als hätten seine SmEars auf »taub« geschaltet. Es gehörte zum guten Ton in Kryptocentern, nicht laut zu sprechen.
Wo sich früher die Rezeption befunden haben musste, standen nun Schließfächer. Jedes gehörte zu einem der Zimmer, von denen laut Anzeige gerade vierzehn frei waren. Vor den Fächern warteten etwa zwei Dutzend Menschen, eine normale Zahl für einen Samstag. Manche trugen ebenso bunte Kleidung wie Taso, andere Grau in Grau, wieder andere Masken.
Er stellte sich ans Ende der Schlange. Die Frau vor ihm hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und den Kopf zu Boden gesenkt, als schämte sie sich dafür, hier zu sein. Weiter vorn flüsterte ein Pärchen und kicherte dabei immer wieder. Vor ihnen stand ein Mann in einem Batmankostüm mit seinem als Robin verkleideten Sohn. Der Junge hatte ungefähr Yasins Alter. Der Gedanke an seinen Neffen und Peter versetzte Taso einen Stich.
Plötzlich drangen laute Stimmen durch die Stille. Er drehte sich zur Tür und sah eine Gruppe junger Männer hereinkommen. Sie grölten und lachten, waren offenbar betrunken.
»Wie siehst du denn aus?«, rief ein großer Dunkelhaariger und zeigte lachend auf einen seiner Freunde, der einen schmuddeligen Jogginganzug trug. »Smarts funktionieren in WfZs nicht, du Idiot! Also Frauen kannste heute vergessen!« Der Angesprochene schien sich für seine Unwissenheit oder die Kleiderwahl nicht zu schämen, und lachte einfach mit.
Der Dunkelhaarige sah zu der Menschenschlange und fuhr sich lässig mit der Hand durchs Haar. Er war offensichtlich der Anführer der Horde. Sein gutes Aussehen, seine Gestik, sein abschätziger Blick – alles an ihm provozierte Taso. »Was ist das denn für eine traurige Veranstaltung?«, rief er den Wartenden zu. »Gibts hier keine Musik?«
Daraufhin lallte er eine Melodie, die Taso nicht kannte, und dirigierte mit den Fingern den Chor seiner Freunde. Sie waren nicht halb so melodiesicher wie er, und so erstarb das Gebrumme rasch wieder.
Taso vermied es, den Eindringlingen direkt in die Augen zu sehen. Gruppen wie diese waren auch schon vor dem Referendum nicht für ihre ausgeglichene Art bekannt gewesen. Gegenüber Offlinern hatten sie erst recht keine Hemmungen. Mit einem kurzen Blick prüfte Taso die Schlange vor sich. Sie war immer noch lang. Batman und Robin waren jetzt an der Reihe, der Vater schubste seinen Sohn ungeduldig nach vorn.
Nachdem sich die Gruppe Betrunkener vollständig im Gebäude versammelt hatte, lösten sich zwei humanoide Sicherheitsroboter aus den Wänden, staksten in die Mitte des Raums und versperrten den Männern den Weg. Die etwas ungelenken Metallkästen wirkten mit ihren knallroten Uniformen nicht besonders Furcht einflößend, aber jeder wusste, dass sie zur Not Elektroschocker einsetzen würden. Auf der Rückseite der Roboter prangte das gelbe Logo der Shields GmbH, ein Unternehmen des Milliardärs Hugo Faber, der neben den Kryptocentern des Landes auch Diagon Alley betrieb.
»Bitte verlassen Sie das Gebäude«, sagte der vordere Roboter freundlich, aber bestimmt. Die Männer lachten spöttisch, als hätte ihnen ein Kind einen Befehl erteilt.
»Aussss dem Weg!«, lallte der Mann im Jogginganzug und versuchte, den Roboter zur Seite zu schieben. Der schien schwerer zu sein, als er aussah, und bewegte sich keinen Zentimeter.
»Was soll das?«, rief der große Dunkelhaarige. »Wir wollen nach Diagon Alley!«
»Bitte verlassen Sie das Gebäude«, wiederholte der Roboter etwas lauter.
»Warum denn? Wir sind doch ganz brav, du Scheißding!«
»Sie stören die Ordnung unseres Hauses. Bitte fahren Sie direkt nach Diagon Alley.«
»Aber man muss doch erst hierher, wenn man in eine WfZ will!«
»Soll