Der Würfel. Bijan Moini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bijan Moini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037921340
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»Darf ich?« Er zeigte auf die Schüssel mit den Schokoladen.

      »N-natürlich«, stammelte Vogel, woraufhin er ein Täfelchen ergriff, auswickelte und sich in den Mund schob.

      Vogel sah ihn kurz an und fuhr dann fort. »Wir sprechen regelmäßig mit Personen, die demnächst Straftaten begehen könnten. Eingangs muss ich Ihnen erklären, warum wir Sie für ein Risiko halten.« Sie verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und wurde etwas ruhiger. »Zunächst einmal haben Sie einen extrem niedrigen Pred-Score. Ehrlich gesagt habe ich noch nie jemanden mit einem niedrigeren getroffen, dabei kenne ich gar nicht so wenige Offliner – und sogar noch einen anderen Gaukler.«

      Taso fühlte sich geschmeichelt. Wenn er auf irgendetwas im Leben stolz war, dann auf seinen Predictability-Score. Der niedrige Wert hob ihn von den vielen Menschen ab, die ein möglichst vorhersehbares Leben führen wollten. Manche taten es für die damit verbundene Bequemlichkeit, andere für ein höheres Grundeinkommen, und wieder andere sahen in der Jagd nach Pred-Punkten schlicht ein Spiel, das immer schwieriger wurde, je weiter man kam. Taso erschauderte bei dem Gedanken an den dänischen Archivar, der mit knapp 91 Preds den Rekord hielt; es gab niemanden, den der Würfel besser vorhersehen konnte.

      Taso arbeitete unablässig daran, das Gegenteil zu gewährleisten. Keiner seiner Offlinerfreunde machte es dem Würfel schwerer, sein Verhalten vorherzusehen, keiner gaukelte ihm erfolgreicher etwas vor. Aber es gab unter den Offlinern ohnehin kaum noch Gaukler. Seinen Pred-Score niedrig zu halten war harte Arbeit, denn 60 bis 70 Preds erreichte man schnell. Die meisten Offliner versteckten sich deshalb lieber vor dem Würfel, den sie als Feind Gottes oder ihrer Selbstbestimmtheit verdammten. Taso aber wollte sich nicht verstecken. Lieber gaukelte er dem Würfel Gedanken und Gefühle vor, die er nicht hatte – mit einer Disziplin, die ihn zu einem der besten Gaukler der Stadt machte. Aber auch sehr einsam.

      »Gaukeln Sie doch selbst mal – ist sehr befreiend!« Er zerknüllte das Schokoladenpapier, legte es neben die Schüssel und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

      Vogel fuhr ungerührt fort: »Sie wurden seit dem Referendum zwölf Mal wegen Chaosstiftens verurteilt. Zwölf Mal in nur acht Jahren …«

      »Das hat man mal demonstrieren genannt«, unterbrach Taso sie. Er wollte das Ganze zwar nicht unnötig in die Länge ziehen, aber er konnte nicht einfach dasitzen und ruhig zuhören, wie beim letzten Mal.

      »Demonstrieren ohne Anmeldung! Das stürzt jedes Mal das öffentliche Leben ins Chaos. Drei Mal hat man Ihnen sogar Vorsatz nachgewiesen.«

      »Weil ich bei Flashmobs mitgemacht habe.«

      »Es ist egal, was genau Sie gemacht haben. Jedenfalls war es strafbar.« Vogel atmete tief durch.

      Taso musste an seinen ersten Flashmob zurückdenken, kurz nach dem Referendum. Er hatte sich mit Gleichgesinnten am Potsdamer Platz verabredet, damals die meistbefahrene Kreuzung der Stadt. Auf ein Kommando waren sie auf die Straße gestürmt und hatten einen Tanzkurs veranstaltet. Als das erste Hupkonzert verklungen war, hatten sich mehr und mehr Autofahrer lachend zu ihnen gesellt. Nur ein Jahr später wurden sie bei einer ähnlichen Aktion ausgebuht, so große Angst hatten die meisten Menschen schon da vor einem Abfall ihres Pred-Scores.

      »Sie waren vor dem Referendum ein sehr aktiver Gegner des Kubismus …«

      »Ich lehne den Würfel bis heute ab.«

      Vogel nickte. »Sie besuchen immer noch regelmäßig Würfelfreie Zonen und haben mutmaßlich viel Kontakt zu anderen Offlinern. Andererseits sind Sie noch nie im Zusammenhang mit Extremisten aufgefallen. Seit zwei Jahren sind Sie auch nicht mehr politisch aktiv.« Sie sah ihn eindringlich an. »Ist das alles so korrekt?«

      Taso wusste, dass Vogel jede seiner sicht- und hörbaren Körperreaktionen in Echtzeit auswerten ließ. »Ja«, antwortete er mit kräftiger Stimme.

      Sie musterte ihn eine Weile und schien zufrieden. »Sie sind trotzdem auf einem sehr unguten Weg, wenn ich das so sagen darf«, sagte sie in einem Ton, als dürfte sie das so sagen. »Bei Ihren Vorstrafen drohen Ihnen bei erneuten Verstößen hohe Geldstrafen oder sogar die Kündigung Ihres Dienstverhältnisses. Erst recht, wenn Sie doch einmal in die falschen Kreise geraten sollten.«

      Taso hätte am liebsten mit der Hand auf den Tisch geschlagen und der ungelenken Polizistin entgegengeschmettert, was er von ihrem belehrenden Ton und diesem ganzen Affenzirkus hier hielt, aber er sah sie nur aufmerksam an. Wie so oft schluckte er es hinunter, schluckte alles einfach hinunter, fütterte damit seinen inneren Antrieb. »Danke für Ihre Besorgnis, Frau Vogel«, sagte er, »aber sie ist vollkommen unbegründet – ich habe mich vorhin erst zu einem Integrationskurs angemeldet. Ich bin für den Kubismus keine Gefahr.« Taso erhob sich. »Kann ich jetzt gehen oder haben Sie sonst noch …?«

      Vogel sprang auf, allerdings nicht wegen Taso, sondern wegen des Mannes, der plötzlich in der Tür stand. Als Taso ihn erkannte, zog sich alles in ihm zusammen.

      »Na, Frau Vogel«, sagte Zhong Schneider, »haben Sie Besuch von einem Stammgast?« Er lachte und trat ins Büro.

      Taso hatte Schneider lange nicht gesehen. Vor einiger Zeit hatte er gehört, dass der alte Polizist in den Verfassungsschutz gewechselt war und dort eine neue Einheit leitete, die sich ausschließlich dem antikubistischen Extremismus widmete. Er hatte gehofft, ihm nie wieder zu begegnen, denn eigentlich war Schneider für Gefährderansprachen nicht mehr zuständig.

      Ein Blick auf Vogel verriet, dass der hohe Besuch auch sie überraschte. Aufgeregt begrüßte sie Schneider und bot ihm ihren Stuhl an. Er nahm wie selbstverständlich Platz und forderte Taso auf, sich wieder zu setzen. Mit einem schmallippigen Lächeln kam Taso der Aufforderung nach.

      »Gut sehen Sie aus, Herr Doff! Wie ich sehe, gaukeln Sie immer noch auf höchstem Niveau – oder dem niedrigsten, besser gesagt.« Er lachte wieder und scrollte mit der Hand durch sein Blickfeld. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »19,84 Punkte! Wahnsinn. Wie mühsam das sein muss!«

      Schneider richtete seinen Blick wieder auf Taso und sah ihn eine gefühlte Ewigkeit einfach nur an. So hatte er bislang jede Ansprache begonnen. Taso ertrug dieses wortlose Starren nur schwer. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte es ihn aus der Bahn geworfen. Seine jugendliche Arroganz hatte sich so schnell aufgelöst wie der muskulöse Bauch nach Ablauf seines bislang einzigen Slifting-Abos. Die sorgfältig vorbereitete Argumentationskette war augenblicklich vergessen gewesen, nach einer Minute hatte er einfach nur noch rausgewollt.

      Schneider stützte seine drahtigen Unterarme auf den Tisch. Nun würde er zu sprechen beginnen. »Vielleicht überrascht Sie das, aber trotz Ihres eigentümlichen Hobbys zähle ich Sie zu den Guten. Deshalb bin ich heute hier.«

      Taso lehnte sich zurück. Deshalb war wohl auch er selbst heute hier.

      »Wir befürchten einen größeren Terroranschlag. Die Informationen sind vage, aber es könnten sehr viele Menschen zu Schaden kommen. Man munkelt, dass sich der Widerstand zunehmend radikalisiert.«

      Taso blickte kurz zu Vogel, die geschäftig nickte, obwohl sie das vermutlich selbst zum ersten Mal hörte.

      »Ich muss Ihnen nicht erklären, wie gefährlich die HF, CRAC und die ganzen anderen Verrückten sind.« Schneider lockerte seine Schultern, bis es knackte. »Ich möchte Sie bitten, Augen und Ohren offen zu halten – in den Würfelfreien Zonen der Stadt oder wo Sie sich sonst so rumtreiben … Ihre Freizeit verbringen, meine ich.« Er sah Taso wieder eindringlich an. »Ich weiß, dass Sie immer noch gut vernetzt sind. Und Sie wissen, dass der deutsche Staat Hinweisgeber ordentlich bezahlt. Es würde sich also für alle lohnen.«

      Taso konnte nicht verhindern, dass seine Augen etwas größer wurden. Es war kaum zu glauben: Der große Schneider bat ihn um Hilfe. Entweder war er verzweifelt oder ahnungslos. So oder so schien der Widerstand ganze Arbeit zu leisten.

      »Sie wollen, dass ich Ihnen helfe?«

      »Warum denn nicht? ›Gewalt gegen eine vom Volk gewünschte Herrschaftsform ist nicht legitim!‹«, las Schneider vor. »Das waren mal genau Ihre Worte.«

      Taso