Der Würfel. Bijan Moini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bijan Moini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037921340
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Dieser schmale Grat schien immer noch der beste Weg für ihn zu sein, obwohl ihm das Gaukeln mittlerweile viel mehr abverlangte, als er für möglich gehalten hatte. Immerhin hatte er so Tims Respekt und seine Freundschaft zurückgewonnen.

      »Hör dir das mal an, ist echt nicht zu glauben.« Tim hatte den Blick wieder auf die Zeitung gerichtet. »›Natürlich ist das diskriminierend, aber ohne Diskriminierung kommen wir nicht weiter, und sie ist auch völlig gerechtfertigt: Niemand muss heutzutage seinen Pred-Score künstlich niedrig halten. Wer es trotzdem tut, ist asozial. Und asoziale Menschen haben keinen Anspruch auf Unterstützung durch die zahlende Bevölkerung.‹«

      Er fuchtelte aufgebracht mit den Armen und schmiss fast den Huxley um, den ihm Rosie gebracht hatte. »›Zahlende Bevölkerung‹ – hat der sie noch alle? Die Idioten schmeißen dem Würfel ihre schmutzigsten Geheimnisse in den Rachen, und er nennt das Bezahlung?« Er warf die Zeitung auf den Tisch. »Das ist … ich meine … das ist doch unglaublich! Was sagst du denn dazu? Lässt dich das kalt?« Tim trank seinen übersüßen Longdrink in einem Zug aus.

      Taso legte die Arme auf den Tisch und beugte sich vor. »Natürlich regt mich das auf. Wie könnte es nicht? Dass ich nicht so … emotional reagiere wie du, heißt nicht, dass mir das am Arsch vorbeigeht.« Er sah Tim eindringlich an. »Ich muss das draußen jeden Tag ertragen. Erst gestern hat mich die Polizei wieder aufgegriffen und zu Zhong Schneider gebracht. Der wollte mich allen Ernstes als Spion anheuern. Aber das hat wieder mal gezeigt, wie schlecht die mich kennen.«

      Tim schien nicht überrascht von Schneiders Rekrutierungsversuch zu sein, kratzte sich aber trotzdem unruhig am Tattoo. Er beugte sich vor und flüsterte mit ernstem Blick: »Meister Schneider hat allen Grund, nervös zu sein.« Er stand auf. »Lass uns mal nach drüben gehen.«

      Taso folgte ihm in einen kleinen, fensterlosen Raum hinter der Bar. In der Mitte des Zimmers stand ein einfacher Holztisch mit Stühlen. Unzählige Schaumstoffpyramiden an der Decke und den Wänden machten es sicher genug für die wenigen Informationen, die Tim hier gelegentlich mit ihm teilte. Sorgfältig schloss Taso die Tür hinter sich.

      »Was ich dir jetzt sage, darf diesen Raum auf keinen Fall verlassen.« Tim fasste Taso bei den Schultern. »Wir … wir planen was richtig Großes.« Er löste den Griff und setzte sich an den Tisch.

      Erwartungsvoll setzte sich Taso zu ihm. Er war wie immer dankbar für Tims Vertrauen und genoss den Anflug von Abenteuer, den solche Situationen stets umgaben.

      Tim machte eine ausladende Geste, sein Gesicht war rot, sein Blick fest. »Nicht nur Demos hier, Interviews da, sondern was richtig Großes. Diesmal könnte es wirklich klappen!«

      »Klappen?«

      »Der Umsturz! Die Revolution! Das Ende des Kubismus!«

      »Aha. Und wie?«

      Tim hatte Taso genau das schon oft angekündigt. Er war leicht zu begeistern und riss andere gern mit. Bei Taso war ihm das jedoch schon länger nicht mehr gelungen.

      Tim atmete hörbar aus. »Kann ich dir nicht sagen. Könnte ich aber, wenn du dich uns endlich anschließt. Wir brauchen dich, Taso. Jetzt mehr denn je.«

      »Tim, ich bewundere ja …«

      »Es wird Zeit, dass du auch mal was tust«, unterbrach ihn Tim mit einem ungewohnten Schneid in der Stimme. Es kam Taso fast so vor, als hätte sich sein Freund auf dieses Gespräch vorbereitet. Er spürte, wie sein Kopf heiß wurde. »Wir brauchen nicht einfach mehr Unterstützung.« Tim beugte sich weit zu ihm über den Tisch und packte seinen Oberarm. »Wir brauchen deine Unterstützung, wir brauchen dich

      Taso war irritiert. Diese Masche war neu. »Mich persönlich, ja?« Er zwang sich zu einem kurzen Lachen. »Wo kann ich unterschreiben?«

      Tim verzog den Mund. Tasos Sarkasmus schien ihn zu ärgern. »Ich will dich nicht in den Widerstand tricksen, Mann – das ist kein Spaß!« Tim hatte Taso schon oft aufgefordert, in die Allianz einzutreten, in letzter Zeit aber meistens, ohne es richtig ernst zu meinen. Aber heute hatte sein Tonfall eine ganz neue Wucht. Er mochte manchmal übertreiben, aber er würde nicht lügen, nicht in solchen Dingen.

      Weil Taso nicht wusste, was er sonst sagen sollte, wählte er seine übliche Verteidigung: »Ich kann nicht einfach bei euch einsteigen. Mein Leben ist okay, ich habe einen Job, eine Wohnung, und dann ist da mein Bruder, seine Familie – du weißt doch, wie schwer es war, den Kontakt zu ihm …«

      »Jetzt komm nicht wieder damit«, fiel Tim ihm erneut ins Wort. »Dein Bruder hat dich damals im Stich gelassen, nicht umgekehrt! Es wird Zeit, dass du das endlich begreifst. Einem angepassten Feigling schuldest du nichts!«

      Wut wallte in Taso auf. »Peter hatte seine Gründe. Und mir geht es überhaupt nicht um Schuld. Aber wie sollst du das auch verstehen, du hast keinen Bruder.«

      Tims Augen verengten sich. »Besser keinen Bruder als so einen.« Taso sah ihn entgeistert an, Tim wischte sich über die nasse Stirn. »Entschuldige«, sagte er beschwichtigend, »aber ich bin ein bisschen am Limit. Wir haben gerade eine echte Chance, was zu ändern, Taso. Weg von der Kontrolle durch diesen Scheißcomputer, zurück zu einer menschlichen Welt. Zu unserer Welt, Mann!«

      Taso war heiß und kalt zugleich. Er kochte innerlich, gleichzeitig war sein Kopf leer. »Was …« Er räusperte sich und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Was plant die Allianz denn? Und wofür braucht ihr mich?«

      Tim sah ihn gequält an. Für einen Moment herrschte vollkommene Stille. »Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann. Nicht, solange du noch da draußen rumrennst und Smarts trägst.« Er zeigte mit dem Daumen Richtung Außenwand. »Du musst mir vertrauen. Wir kennen uns jetzt schon so lange, und ich sehe doch, dass du unzufrieden bist. Wie lange willst du dich denn noch durchs Leben gaukeln? Und wofür? Komm zu uns, lass dich überprüfen, hör dir unseren Plan an – du kannst dann immer noch Nein sagen.« Tims Mimik lockerte sich, der Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Erinnerst du dich noch, wie du mir Pascale vorgestellt hast?« Taso nickte. Er war nicht überrascht, dass Tim diese Anekdote ausgrub. »Das war vielleicht drei, vier Monate vor dem Referendum, oder? Damals warst du noch Feuer und Flamme für die Sache und ich … na ja, noch nicht so richtig. Du musstest mich mit Frauen ködern. ›Die sind viel aufregender als die Tanten, die du sonst so abschleppst‹, hast du gesagt. Und dann hast du mir von Pascale vorgeschwärmt, die damals noch nicht Vorsitzende war, aber schon da alle umhaute. Die sei genau mein Typ, ich müsse dir nur vertrauen … Kein Wort hab ich dir geglaubt!« Er lachte, und auch Taso musste lächeln. »Aber ich bin trotzdem mit, weil ich dich mochte und, na ja, weil ich wahrscheinlich eh nichts Besseres zu tun hatte. Und dann hat mich dieser Tag komplett umgehauen. Nicht nur wegen Pascale, sondern weil es bei mir so dermaßen klick gemacht hat. Endlich verstand ich dich und die anderen, kapierte, warum du so viel Zeit auf Demos verbracht hast, warum du immer so … anstrengend warst. An dem Tag ist dein Funke auf mich übergesprungen, und ich weiß, dass du auch wieder Feuer fangen kannst.«

      Taso lächelte gedankenverloren. Tim fing seinen Blick auf und sah nun fast wieder traurig aus. »Tritt der Allianz bei, Taso, hör dir unseren Plan an. Auch wenn du unentschieden bist. Komm trotzdem mit, so wie ich damals! Manchmal muss man etwas wagen, um voranzukommen. Ohne diesen Mut sind wir nicht besser als die Kubisten.«

      Mut. Das war das Schlüsselwort, das Taso innerlich beben ließ. So oft schon hatte er sich gewünscht, mutiger zu sein. Gerade weil ihn so viele für mutig hielten: die Offliner, weil er allen Anfeindungen zum Trotz unter Kubisten lebte, und die Kubisten, weil er ihren Anfeindungen trotzte. Aber nüchtern betrachtet war es vor acht Jahren nicht mutig gewesen, beim Referendum mit Nein zu stimmen. Gegen den Wandel zu stimmen war nie mutig, obwohl es in diesem Fall richtig gewesen war. Es war nicht mutig gewesen, danach in die Schweiz abzuhauen. Mutig wäre es gewesen, vor zehn Jahren zusammen mit seinem Bruder auszuziehen oder später in den Widerstand zu gehen. Ein mutiger Mensch wäre kein Gaukler geworden, der zwischen den Welten wandelte. Ein mutiger Mensch würde jetzt Ja sagen. Oder er würde zumindest zu seinen Ängsten stehen.

      »Ich denk darüber nach, ja?«

      Tim