Der Würfel. Bijan Moini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bijan Moini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783037921340
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zumindest für einen Moment fasziniert war. Ob er an ihre alte Würfelsammlung zurückdachte? Plötzlich verhärtete sich Peters Blick, und er steckte den Würfel in die Hosentasche.

      »Danke«, murmelte er und sah Taso flüchtig an. Für einen Moment standen sie wortlos voreinander. Taso hätte Peter gern erzählt, dass der Würfel über hundert Jahre alt war, zu einem chinesischen Glücksspiel gehörte und einem früheren Eigentümer ein Vermögen beschert hatte. Stattdessen wechselte er zum erstbesten Standardthema. »Wie läufts bei der Arbeit?«

      »Alles wie immer.«

      »Ihr habt da was Neues entwickelt – Crazindi oder so? Hat mir eure App neulich empfohlen.«

      »Ja, genau.«

      Peter sprach nicht gern über seine Arbeit. Seine Programmiererei sei geheim, hatte er mal gesagt. Taso wusste nur, dass sein Bruder Storytelling-Algorithmen für ein Unternehmen schrieb, das individuelle Filme produzierte. Der größte Teil der Unterhaltungsindustrie bestand mittlerweile aus Filmen, Serien, Büchern, Musik oder Spielen des Indi-Genres. Peters Algorithmen erfanden spontan Geschichten – spannende, lustige, romantische, fantastische –, die weitere Algorithmen dann über die Smarts der Konsumenten sofort zum Leben erweckten. Fotorealistisch animiert entsprachen sie ganz der Vorliebe und Stimmung der Nutzer. Die Figuren glichen meist einst beliebten Schauspielern, um den Simulationen die Illusion echter Filme zu verleihen. So konnte jeder stets genau das sehen, hören, lesen, spielen, wonach ihm der Sinn stand, ohne selbst auswählen zu müssen. Auch Taso konsumierte Indi-Unterhaltung. Es war eine nervtötende, aber einfache Methode, den Würfel mit falschem Feedback über den eigenen Geschmack zu täuschen.

      Taso blieb hartnäckig. »Crazindi – das sind Indi-Filme mit Logikfehlern, oder?« Peter deutete ein Nicken an. »Aber werbt ihr nicht mit Storys ohne Logikfehler?«

      Peter zögerte einen Moment. »Natürlich sind logische Storys unsere größte Leistung. Aber das hat Indi-Filme auch stark eingeschränkt: Lässt man Logikfehler zu, kann man viel verrücktere Geschichten erzählen. Viele mögen das.«

      Taso grinste. »Könnten dann nicht einfach wieder Menschen Filme machen?«

      Peter winkte ab. »Viel zu teuer. Aber wie läufts bei dir denn so?«

      Bevor Taso antworten konnte, kamen Yasin und Lisa auf ihn zugestürmt. Sein Neffe und seine Nichte trugen Piratenkostüme mit sperrigen Hüten und Augenklappen und grinsten über das ganze Gesicht. Der sechsjährige Yasin baute sich stramm wie ein Soldat vor Taso auf und rief viel zu laut: »Guten Tag, der Herr!« Er hatte die dunklen Locken seiner Mutter, die ungebändigt unter seinem Hut hervorsprangen.

      »Guten Tag, Herr Ponykuchen!«, antwortete Taso mit tiefer Stimme. Yasin kniff die Augen zusammen und kicherte. Taso begrüßte die beiden stets mit wechselnden Fantasienamen, eines der wenigen öffentlichen Rituale, die er sich gönnte.

      Lisa versuchte die Haltung ihres drei Jahre älteren Bruders zu imitieren. Mit ihrer Stupsnase und den riesigen schwarzen Augen sah sie noch niedlicher aus als er. »Guten Tag, der Herr!«

      »Guten Tag, Frau Dackeltorte!«, antwortete Taso. Beide Kinder prusteten los und umarmten ihn.

      Taso liebte die kindliche Freude und Unbeschwertheit der beiden, auch wenn er sie nie wirklich teilen konnte. Warum auch sie ihn so mochten, konnte er sich nicht erklären: Er begegnete ihnen meist kühl und distanziert, hatte wenig Verständnis für ihre digitalen Spiele, und reich beschenken konnte er sie auch nicht. Disziplinierter Gaukler, der er war, blickte er immer ungerührt drein, wenn sie ihn anlächelten. Vielleicht genügten aber seine Begrüßungen und die darauffolgenden festen Umarmungen, um ihnen seine wahren Gefühle zu vermitteln.

      Als er sich wieder aufrichtete, zogen die Kinder weiter. Peter war bereits in ein Gespräch mit drei Unbekannten verwickelt. Tasos SmEyes zeigten neben ihren Köpfen in kleinen Blasen ihre öffentlichen Profile an, aber statt sie zu lesen, folgte er seinem Hunger in die Küche. Auf großen Platten mit Holzoptik lagen unzählige Häppchen, eins verlockender als das andere. Er war allein und wusste, dass hier keine Kameras hingen. Er schloss die Augen, beugte sich über die verschiedenen Platten und roch ausgiebig an dem karamellisierten Kunsthuhn mit Mandeln, dem Krabbencocktail mit gehäuteten Mandarinenstückchen und dem Linsensalat mit Minze und Basilikum.

      Selbst mit verdeckten SmEyes könnte er keines der leckeren Häppchen essen, ohne dass der Würfel es erführe. Der letzte Besucher der Küche hatte das Essen sicher gesehen, auch der nächste würde SmEyes tragen, sodass der Würfel Taso jedes fehlende Gramm zuordnen könnte. Er öffnete die Augen, nahm sich schweren Herzens nur eins der Gläschen mit dem Krabbencocktail, legte sich zwei Blätterteigküchlein mit Fenchel auf einen Teller – er hasste Fenchel – und ging ins Wohnzimmer.

      Betont genüsslich kaute er auf dem scheußlichen Gemüse herum und suchte nach vertrauten Gesichtern. Auf der anderen Seite des Zimmers erkannte er drei Männer, die er vor einiger Zeit als Peters Studienfreunde kennengelernt hatte. Kollegen seines Bruders schienen keine da zu sein, wie schon im letzten Jahr. Peter hatte offenbar wenig Kontakt, wenn er im stillen Kämmerlein seine ach so geheimen Codes schrieb.

      Von der Terrasse hörte Taso das Maschinengewehrlachen seines ehemaligen Schulfreundes Luke herüberschallen. Wahrscheinlich stand er mit seiner mausgesichtigen Frau Vanessa zusammen, umringt von irgendwelchen Langweilern, und gab peinliche Heldengeschichten zum Besten, während er sich ein Bier nach dem anderen in den Rachen kippte. Dass Peter immer noch mit ihm befreundet war, wollte Taso nicht in den Kopf. Er selbst hatte vor genau einem Jahr das letzte Mal mit Luke gesprochen und auf Lebzeiten keinen Bedarf an einer Fortsetzung.

      »Na?«, hatte Luke damals gesagt und seinen schweren Arm um Tasos Schulter gelegt. »Noch immer offline?« Mit breitem Grinsen hatte er sich seiner Frau zugewandt. »Taso gaukelt, hat einen niedrigeren Pred-Score als mein Opa!« Er lachte laut auf, und Taso stimmte mit ein, versuchte dabei, die Tonlage zwischen aufrichtig und zynisch schwanken zu lassen.

      Luke steckte sich ein Lachsschnittchen in den Mund und nuschelte: »Und lebt von unseren Daten.«

      Das hatten Taso schon viele Menschen vorgeworfen. Es fiel ihm deshalb nicht schwer, ausgiebig zu lächeln, als hätte Luke ihm ein Kompliment gemacht. »So sehe ich das nicht«, sagte er ruhig.

      »Du bekommst doch ein Grundeinkommen, oder? Ohne unsere Daten könnte der Würfel Angebot und Nachfrage nicht mehr steuern und keine Grundeinkommen erwirtschaften – und wir würden Arbeitszeit und Ressourcen verschwenden.«

      Seine unreflektierte Wiedergabe von Würfelpropaganda klang wie von der Konvohilfe abgelesen. Aber so einfach ließ sich Taso nicht provozieren. »Wir könnten auch so genug erwirtschaften, um gut zu leben, das hat früher ja auch geklappt.«

      »Weil es da noch genug Arbeit gab!«, sagte Luke und wischte sich über den Mund.

      »Gäbe es immer noch, wenn nicht immer alles so ultraeffizient sein müsste.«

      Luke nahm ein weiteres Kanapee vom Büfett. Er hielt seiner Frau eine grün-grau bestrichene Weißbrotscheibe hin, sie schüttelte den Kopf. »Also ich habe jedenfalls keine Lust, länger zu arbeiten, nur damit Leute wie du …« Der Rest des Satzes verschwand in Kaugeräuschen.

      Taso hatte sich wortlos selbst etwas zu essen genommen und war aus der Küche gegangen.

      Soll ich dir alle Personen anzeigen, die du kennst? Taso aß die letzte Ecke Blätterteig und nickte. Seine SmEyes markierten neben den bereits gesichteten sechs weitere Personen. Er las in den angezeigten Profilen, wer sie waren und woher er sie kannte: Drei Kolleginnen von Roya waren darunter, eine weitere Kommilitonin von Peter und ein mit beiden befreundetes Paar, mit dem er offenbar auf der letzten Geburtstagsfeier ein paar Floskeln ausgetauscht hatte.

      Keiner von ihnen würde sich gern mit ihm unterhalten.

      Das war nicht immer so gewesen. Vor dem Referendum hatten Freunde und Bekannte seine Einstellung zum Datenschutz noch toleriert, ja sogar respektiert. Es hatte als angesagt gegolten, einen Totalverweigerer wie ihn auf Partys einzuladen. Mit der Zeit sahen sie ihn aber immer kritischer. Als er nach dem Referendum zu gaukeln begann, verdorrte