»Als ich das gesagt habe, war ich fast noch ein Kind.«
Schneider hob die Augenbrauen. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Terroranschläge inzwischen gutheißen?« Sein Blick wurde todernst. »Wenn ich mitbekommen sollte, dass Sie Terroristen decken, stecke ich Sie persönlich in den Knast. Das garantiere ich Ihnen.«
»So meinte ich das nicht«, sagte Taso schnell. »Ich halte Gewalt immer noch für den falschen Weg, da können Sie mir die Worte im Mund verdrehen, wie Sie wollen.« Er griff erneut in die Schüssel mit den Schokoladen, um Schneiders Blick auszuweichen. Der sah verdutzt zu Vogel, die daraufhin hektisch in der Luft herumfuchtelte und ihm ein nun wohl für jedermann sichtbares Täfelchen anbot. Schneider lehnte es mit einer unwirschen Handbewegung ab und wandte sich wieder an Taso.
»Heißt das, Sie helfen uns?«
Taso zögerte. Er holte seine Münze heraus.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, rief Schneider. »Das ist kein Spiel, es geht um Menschenleben, verdammt!«
Taso warf die Münze ungerührt in die Luft – Zahl. »Wenn ich etwas höre, das mir zu weit geht, melde ich mich.«
Schneider schüttelte den Kopf und widmete sich einer Anzeige in seinem Sichtfeld. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Der Würfel hat eine Wahrscheinlichkeit von 73,52 Prozent errechnet, dass Sie das ernst meinen. Damit kann ich vorerst leben. In spätestens einem Monat lade ich Sie zum Rapport.«
Taso unterdrückte ein Grinsen. Vielleicht war er nicht nur einer der besten Gaukler, sondern der beste überhaupt.
2
Lustlos stand Taso vor dem Haus seines Bruders. Die vom Regen nasse Jeansjacke klebte an seinen Armen, obwohl der gesmalte Himmel noch immer wolkenlos war. Er prüfte seine E-Mails. Wieder nichts von Tim. Zögernd näherte er sich der Haustür, die sich sofort automatisch entriegelte.
Peter und seine Familie bewohnten das Dachgeschoss des Altbaus. Wie fast jedes Mal zwang Tasos Münze ihn, die Treppe zu nehmen. Er fluchte innerlich.
Fünf Stockwerke später stand er schnaufend vor der angelehnten Wohnungstür und lauschte dem Stimmengewirr dahinter. Beschämt sah er an sich herunter. Wenn er doch wenigstens nicht die Schlaghose gewürfelt hätte! Er fühlte sich wie ein Schüler, der gleich vor seine neue Klasse treten musste, wollte kehrtmachen und nie wiederkommen.
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»Nein«, sagte Taso und trat ein. Prompt hörte er durch seine SmEars sanfte Musik.
Er war fast zwei Stunden zu spät. Überall standen ihm unbekannte Menschen. Kühle Luft zog von der West- zur Ostterrasse, verteilte den Duft frischer Häppchen und das Parfüm herausgeputzter Gäste. Taso konnte sich nicht erinnern, je selbst eine so große Party geschmissen zu haben. Zwei Frauen in seiner Nähe lachten laut. Ihre Figuren und Frisuren sahen makellos aus, die Sliftings mussten ein Vermögen kosten. Eine trug ein Kleid aus Schlangenhaut, die andere strahlte ganz in Weiß; die Farben ihrer Cocktails waren perfekt auf ihre Erscheinungen abgestimmt. Im Wohnzimmer saß eine Gruppe Männer mit aufgerissenen Augen nebeneinander auf der Sofakante. Einer packte grob den Unterarm seines Nachbarn, ein anderer schlug sich fluchend auf den Oberschenkel, während ein dritter genüsslich grinsend die Arme in die Luft reckte. Vermutlich hatten sie ihre Smarts für ein Spiel verbunden. Ein Kreischen ertönte, und an Taso rannte erst ein kleines Mädchen, dann ein kleiner Junge vorbei, beide in Ghostbusterskostümen und offenbar auf der Jagd nach etwas, das ihre SmEyes anzeigten. Auf die Wände waren aufwendige Kunstwerke gesmalt, die sich um Balken, Ecken und Kanten herumschlängelten und mit wechselnden Farben im Rhythmus der Musik pulsierten, dazwischen erschien immer wieder eine 28.
Ihre Gastgeber-App musste Roya über Tasos Ankunft informiert haben, schon nach wenigen Sekunden drückte ihn seine Schwägerin an sich. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, das sich spiralförmig um ihren Körper wand und schmale Streifen nackter Haut zeigte, ihre dunklen Locken fielen frei über die Schultern. Sie wirkte ausgelassen und beschwipst.
»Alles Gute zum 28.!«, rief sie mit der warmen Stimme, die er so mochte. »Wie schön, dass du da bist! Konntest du nicht früher?«
Während sie seine Jacke aufhängte, erklärte sich Taso mit einem Bericht vom Umweg über das Polizeirevier.
»Meine Güte, haben die nichts Besseres zu tun?«, sagte Roya und schüttelte den Kopf. Taso zuckte nur mit den Achseln und zeigte auf die bunten Wände. »Hast du das selbst gesmalt?«
Roya lachte. »Schön wärs – sieht klasse aus, oder? Das war eine unserer Proxistinnen.« Sie zeigte auf eine junge Frau, die an der gegenüberliegenden Wand stand und sich mit zwei älteren Männern unterhielt. Sie trug einen engen Einteiler, der aus diversen hellen Stofffetzen zusammengenäht war und einen tiefen Ausschnitt hatte.
»Pass auf, wo du hinguckst«, hörte er Roya sagen, aber sein Blick hatte offenbar schon zu lange an der falschen Stelle verweilt: Vor seinen Augen sank der Ausschnitt des Kleids, bis die Karikatur einer weiblichen Brust hervorsprang, völlig deformiert und bläulich angelaufen. Die junge Frau drehte sich zu ihm und grinste schelmisch. Roya lachte, während Taso sich peinlich berührt abwandte.
»Zugegeben, sie ist etwas speziell. Aber ich bin noch nie einer schnelleren Proxistin begegnet. Die Wände hatte sie in zwei Stunden fertig. Unglaublich!«
Wenn er Roya jetzt nicht in eine andere Richtung lenkte, würde sie stundenlang über die Eleganz von Codezeilen sprechen, über die virtuelle Tastatur als neue Farbpalette und die Eroberung der Kunst durch die Informatik oder der Informatik durch die Kunst, denn Roya war Kuratorin im Museum für »Art by Proxy«. Taso war kein großer Bewunderer dieser Kunstform, in der Computerprogramme Bilder, Filme oder Installationen generierten und Künstler nur noch durch die Veränderung von Codezeilen Einfluss nahmen, nickte Roya aber anerkennend zu.
»Alles Gute zum Geburtstag, Brüderchen!«, rief eine vertraute Stimme hinter ihm. Taso fuhr herum. Ein etwas aufdringlicher Herrenduft und ein Hauch Alkohol streiften seine Nase. Peters Anblick erinnerte ihn immer daran, wie gut auch er aussehen könnte, wenn er sich nur modisch kleiden und ein wenig sliften würde. Peters perfekt sitzende Bluejeans passte hervorragend zu dem anthrazitfarbenen Hemd, dessen Ärmel er lässig umgeschlagen hatte, sodass man das rot gepunktete Innenfutter sah. Er hatte seine Figur sportlicher gesliftet, auch seine kurzen dunklen Haare wirkten voller als in Wirklichkeit, nur das Gesicht war unverändert. In gleicher Kleidung und ohne Slifting sähen sich die beiden so ähnlich, dass man sie nur an der Haarlänge unterscheiden könnte.
»Dir auch«, sagte Taso, und sie umarmten sich – wie immer eine Sekunde länger und ein Newton kräftiger als zwischen Brüdern üblich. Und wie jedes Mal blitzte in Tasos Kopf die Erinnerung daran auf, wie ihre Mutter sie an ihrem sechsten Geburtstag aufgefordert hatte, sich mit einer Umarmung gegenseitig zu gratulieren. Er hatte es erst komisch gefunden, aber das Wohlgefühl, das ihn damals ergriffen hatte, die Wärme und Vertrautheit, überwältigten ihn noch heute bei jeder Umarmung seines Bruders, ganz gleich wie sie gerade zueinander standen.
Sie lösten sich voneinander. Das Gefühl verschwand.
»Welch eine Ehre«, spottete Peter. »Passiert ja nicht jeden Tag, dass ein waschechter Staatsfeind zu Besuch kommt!« Taso erwiderte nichts, woraufhin Peter ihm lachend auf die Schulter klopfte. Roya sah ihren Mann vorwurfsvoll an und wandte sich anderen Gästen zu.
Taso konnte nicht behaupten, dass ihm Peters Kommentare nichts ausmachten, aber er hatte sich damit längst abgefunden. Er zog das kugelförmige Päckchen aus der Hosentasche und reichte es Peter, der ihn irritiert ansah. »Wir schenken uns doch nichts.«
Taso zuckte mit den Schultern. Sein Bruder löste die Schleife und packte einen roten Ball aus, dessen Hälften er so gegeneinander verschob, dass sie sich öffneten. Aus der unteren Ballhälfte nahm er einen kleinen Würfel, der auf drei Seiten schwarz schimmerte, auf den drei anderen weiß.