Dann signalisierte ein unterdrücktes Husten, dass tatsächlich jemand hinter der Ecke war. Graham war sich sicher, dass das Geräusch nicht seiner Fantasie entsprang. Er bewegte sich einige Schritte seitwärts, um den verdeckten Raum einsehen zu können. Dabei zielte er unablässig in Richtung der Person, die es wagte, ihn in seinem privaten Schmerz zu stören.
Eine dünne, weibliche Silhouette wurde sichtbar. Die Kapuze ins Gesicht gezogen stand sie gegen das Haus gelehnt da. Sie beugte sich nach vorne in dem vergeblichen Versuch, den Hustenanfall zu unterdrücken. Als der Husten nachließ, hob sie den Kopf und sah Graham mit starrem Blick an. Ihre Augen flehten, während sie die Hände hob, um zu zeigen, dass sie nichts Böses im Schilde führte.
Die zerbrechlich wirkende Frau humpelte nach vorne, stoppte und hob erneut die Hände. Graham konnte die Zeichen der Krankheit sehen, die sie schon deutlich geschwächt hatte. Nachdem sie noch ein paar Schritte näher gekommen war, erkannte er, dass kaum noch eine Stunde Leben in ihr war. Ihr Gesicht zeigte all die Zeichen, die er schon kannte. Allein die Tatsache, dass sie es schaffte, vor ihm zu stehen, kam einem Wunder gleich. Der nicht enden wollende Husten schüttelte ihren ganzen Körper. Graham näherte sich ihr bis auf fünfzehn Fuß und senkte den Lauf seiner Waffe. Sein Blick begegnete ihren bittenden Augen, wohl wissend, dass jeder Atemzug ihr letzter sein konnte.
Sie muss eine der Letzten sein, die am Virus erkrankt sind, aber noch leben. Jedoch nicht mehr lange.
»Ich bin Hyun-Ok«, flüsterte die Frau mit kaum hörbarer, rasselnder Stimme. Sie deutete vage hinter sich. »Das ist mein Sohn Bang.«
Graham stolperte einige Schritte zurück und hob die Hand. Er wusste sofort, was sie von ihm wollte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mich um niemanden kümmern.«
Sie schleppte sich einige Schritte vorwärts und flehte ihn an: »Ich habe Sie beobachtet. Sie sind ein guter Mann. Bitte, Sie sind der Einzige, der in Frage kommt. Er ist immun, wie Sie.«
Bevor Hyun-Ok mehr sagen konnte, stolperte sie auf der geschotterten Einfahrt, fiel auf die Knie und begann wieder zu husten. Der Junge rannte an ihre Seite.
Überrascht, ein so kleines Kind zu sehen, hängte sich Graham das Gewehr über die Schulter und kam einige Schritte näher. Er hatte sich noch nie von der Gefahr abschrecken lassen, dass das Virus ihm gefährlich werden könnte. Verdammt, er hatte sogar versucht, sich anzustecken, nachdem Nelly gestorben war.
Graham hob den kleinen, schmalen Körper der sterbenden Frau auf und trug sie in seinen Armen. Der Junge beobachtete jede seiner Bewegungen und blieb dicht hinter ihm, als er zum Haus zurückging.
Nur wenige Optionen blieben. Er konnte nicht dabei zusehen, wie die Frau in seiner Einfahrt starb, schon gar nicht mit ihrem Kind in der Nähe. Sein Vater hätte das vermutlich ebenso wenig zugelassen. Mit einer freien Hand öffnete er die Glasschiebetür, während die Frau weiter in seinen Armen huste. Den Jungen konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass er hinter ihm stand. Er legte sie auf das Sofa im Wohnzimmer und hörte, wie der Junge die Tür zuschob. Graham nahm die rote Blumensteppdecke seiner Mutter von der Rückenlehne und legte sie über die kleine Frau.
Er sah zu, wie der Kleine zu seiner Mutter stürmte. Sie griff nach ihm, und sobald sie sich wieder etwas unter Kontrolle hatte, ergriff sie auch Grahams Hand. Mit verzweifeltem Blick sah sie ihn an.
»Bitte, Graham, Sie müssen ihn zu sich nehmen, es gibt sonst niemanden«, sagte sie.
Er fragte sich, woher sie seinen Namen kannte. »Ich hole Ihnen etwas Wasser«, sagte er und versuchte, dem Gespräch auszuweichen. Ihm war bewusst, wie grausam und hilflos sie sich in ihrer Lage fühlen musste, wohl wissend, dass sie ein kleines Kind in dieser neuen Welt allein zurücklassen würde.
»Nein, es bleibt nur noch sehr wenig Zeit«, murmelte sie. »Bitte keine Umstände.«
In diesem Moment tat sich Graham nicht mehr so leid wie noch gerade eben. Er wusste, dass der Junge in einer viel übleren Lage war. Und trotzdem. Er fühlte sich nicht bereit, für ihn die Verantwortung zu übernehmen.
Bevor Hyun-Ok weitersprach, legte sie die kleine Hand ihres Sohnes in die von Graham. »Sie brauchen ihn ebenso sehr, wie er Sie braucht. Bitte nehmen Sie ihn auf«, fuhr sie weinend fort.
Graham ertappte sich dabei, wie er nickte, während ihm ihre Verzweiflung immer bewusster wurde. Jede Sekunde würde sie genau dort auf dem Sofa vor den Augen ihres Sohnes sterben. Er konnte kein neues Leid ertragen. Er gab nach.
»Ich werde ihn zu mir nehmen. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Damit sie in Frieden gehen konnte, hob er das Kind auf das Sofa neben seine Mutter. Als der Junge laut zu weinen begann, brach Grahams Stimme. »Alles ist gut. Ich verspreche, gut auf ihn aufzupassen.«
Graham wollte ihr unbedingt dieses Geschenk machen. Er hatte nichts tun können, als er seine geliebte Familie verloren hatte, aber er konnte zumindest dieser Fremden Frieden geben. In ihrem letzten Moment wollte er ihr zeigen, dass es noch Menschlichkeit gab. Er vermisste die Güte der Lebenden.
Hyun-Ok sah zu ihm auf. Auf ihrem Gesicht lag die gleiche Ruhe, die Graham am frühen Morgen auf dem Gesicht seines Vaters gesehen hatte. Ihr Gesicht wurde weich. Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab, während sich ihre Augen von Graham auf ihren Sohn richteten. Sie blinzelte die Tränen weg, ihr Lächeln verschwand, und ihr Mund klappte auf. Der Funke des Lebens war verloschen, einfach so. Sie hatte den Übergang von dieser Welt in die nächste mit geborgter Zeit vollendet.
Graham ließ seinen Blick ein paar stille Momente auf ihr ruhen. Er hörte, wie ein leiser, erstickter Schrei tief aus dem Jungen kam. Zusammengekauert blieb er neben seiner Mutter liegen. Graham verstand seine Trauer. Auch der Junge hatte zu viel Tod gesehen, und das viel zu früh in seinem Leben. Er strich dem Jungen über den Kopf, der sich an seine Mutter klammerte und weinte.
Sanft schloss er Hyun-Oks Augen und legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Alles wird gut«, sagte er. Der Junge stieß ihn weg und hielt sich an seiner Mutter fest.
Graham ging einen Schritt nach hinten. Er schüttelte den Kopf und verfluchte sich für das Versprechen, das er gerade gegeben hatte. Er ging aus dem Zimmer und ließ den kleinen Jungen zurück. Nun gab es ein weiteres Grab, das er vor Sonnenuntergang auszuheben hatte.
3| Im Dunkel vor dem Morgengrauen
Graham hob das Grab der toten Frau unmittelbar neben dem seiner geliebten Nelly aus. Er mochte den Gedanken, dass die beiden in der Welt der Lebenden gut miteinander ausgekommen wären. Beide hatten sie Kinder geliebt, und er wollte nicht, dass diese tapfere kleine Frau allein war. Es fühlte sich einfach richtig an.
Erschöpft lief Graham zum Haus zurück. An der Tür stampfte er den Schlamm von den Stiefeln. Der Junge lag noch immer an der Seite seiner Mutter. Graham wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Was ist, wenn ich ihn nicht dazu bringen kann, sich von seiner Mutter zu lösen?
Er ging zu dem Jungen und schüttelte ihn wach. Augen wie die seiner Mutter, aber rot umrandet, sahen zu ihm auf.
»Na, mein Junge, wie heißt du noch mal?«, fragte Graham. Der Junge zögerte.
»Also, ich bin Graham. Und wie heißt du?«
»Bang.«
Graham war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Wie bitte?«
»Bang!«, rief der Junge und warf sich weinend auf den Bauch.
»Komm schon, Bang, ich brauche deine Hilfe«, sagte Graham.
Der Junge schloss die Augen und vergrub sein Gesicht an der Seite seiner Mutter.
»Nun komm schon. Wir haben viel zu tun«, beharrte Graham. Er zog ihn von seiner Mutter weg und vom Sofa herunter. Bang schrie, trat um sich und landete dabei einen Glückstreffer gegen Grahams Schienbein.
»Verdammt noch mal, Kind!« Er hielt Bang am Arm fest und zog den tretenden