GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor). A.R. Shaw. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: A.R. Shaw
Издательство: Bookwire
Серия: Survivor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351691
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erste Person, auf die sie zwei Straßen weiter gestoßen war, hatte sie sofort ausgeschlossen. Sie war zu alt gewesen, um Beschützer eines Kindes von fünf Jahren zu sein. Die ältere Dame hatte ausgesehen, als habe sie höchstens noch ein Jahr vor sich, wenn überhaupt. Hyun-Oks Junge brauchte jemanden, der jünger war und ihn durch das Leben begleitete, zumindest bis er erwachsen war.

      Beim Anblick des Mannes, den sie als Nächstes fand, hatte sie ebenfalls kein gutes Gefühl gehabt. Sie hatte beobachtete, wie entgrenzt er um seine verlorene Familie trauerte. Im Dunkeln hatte er draußen auf der Veranda in einem Liegestuhl gesessen und Obszönitäten in die Nacht hinausgeschrien. Als ob er geradezu auf die hungernden Hunde, die inzwischen verwildert waren, wartete. Er hatte zwar auf sie geschossen, aber nur, um einen Angriff zu provozieren. Hyun-Ok hatte seinen abgrundtiefen Schmerz spüren können. Sie hatte die Ahnung beschlichen, dass er es darauf anlegte, zu Tode zerfleischt zu werden. Wenn ihm das nicht gelänge, würde er sich wahrscheinlich bald selbst das Leben nehmen. Wahrscheinlich ging es vielen Überlebenden ähnlich. Also suchte sie weiter.

      Als Nächstes hatte Hyun-Ok unbemerkt den Highway überquert und eine leicht bekleidete junge Frau gefunden, die auf einem verwaisten Grundstück Äpfel von einem Baum pflückte. Doch diese Frau würde die falsche Art Aufmerksamkeit erregen und wäre keine gute Wahl gewesen.

      Der Mann, den sie letztendlich ausgewählt hatte, war der Einzige, der ihr fähig schien, der Beschützer ihres Sohnes zu sein. Außerdem hatte er etwas an sich – entweder war es die Art, wie er seine große Gestalt bewegte oder die bedächtige Würde, mit der er seine Lieben begrub – das Hyun-Ok das Gefühl gab, dass sich der Nachbar namens Graham als beste Wahl erweisen würde. Sie spürte, dass sie ihm ihren Jungen anvertrauen konnte. Nach dem bevorstehenden Tod von Grahams Vater würde er niemanden mehr zu begraben haben. Dann würde sie ihren Jungen zu ihm bringen und sich auf ihre eigene Reise in den Tod begeben. Noch einen Tag durchhalten, dachte sie. Aber bis es soweit ist, muss ich ihm alles über Bang aufschreiben.

      Mit einem traurigen Lächeln durchstreifte sie das Labyrinth der geparkten Fahrzeuge. Aufmerksam lauschte sie allen Geräuschen, immer auf der Hut vor Gefahren. Ein letztes Mal warf sie einen Blick auf das glutrote Leuchten in der Ferne, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. Ihre letzte große Aufgabe bestand darin, Graham davon zu überzeugen, dass er den Jungen ebenso brauchte wie dieser ihn. Sie wusste, dass dies die größte Herausforderung sein würde. Sie musste ihn davon überzeugen, oder ihr Sohn war verloren.

      2| Gräber ausheben

      Der gebrechliche alte Mann streckte die Hand nach seinem Sohn aus. Voller Tränen ergriff Graham sanft die zitternden, faltigen Hände seines Vaters, der vor ihm im Sterben lag. Er spürte, dass sie sich jetzt so nah waren wie nie zuvor.

      Graham versicherte ihm, dass er es so machen würde, wie sie es besprochen hatten. Er würde das Gewehr zu allen Zeiten bei sich tragen. Mit ersticktem, rasselnden Husten erinnerte ihn sein Vater daran, dass Gott für ihn nicht vorgesehen hatte, sich das Leben zu nehmen. Das würde nur seelenloses Umherirren im Jenseits bedeuten. Zudem würde er nie wieder eins mit seiner verstorbenen Familie werden können.

      Er hatte die Zeichen in jüngster Zeit zu oft gesehen und wusste, dass das Ende seines Vaters nah war. Verzweiflung breitete sich in ihm aus, denn diesmal würde er allein zurückbleiben, ohne auch nur eine einzige vertraute Seele auf der Welt. Der keuchende, pfeifende Atem seines Vaters wurde kürzer, der Blick starr, und das Gesicht sank in sich zusammen. Grahams Verzweiflung über den bevorstehenden Verlust des Vaters wich dem Gebet um Gnade und ein schnelles Ende. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie sein Vater sich quälte. So wie sich auch diejenigen gequält hatten, die nun unter der Erde lagen. Einer nach dem anderen waren sie voller Schmerz und Trauer gestorben.

      Graham konnte einfach nicht begreifen, weshalb ausgerechnet er noch lebte. Hilflos hatte er mitansehen müssen, wie seine Frau Nelly starb und ihr ungeborenes Kind mit sich nahm. Dann hatte ihn seine geliebte Mutter verlassen, gefolgt von seiner Schwester und seiner vier Jahre alten Nichte. Und nun sein Vater.

      »Was soll ich ohne dich tun?«, fragte Graham.

      Sein Vater antwortete langsam: »Mache das, was ich dir beigebracht habe. Triff gute Entscheidungen auf deinem Weg und bereue nichts. Du wirst es schaffen. Und du sollst immer wissen: Ich bin stolz auf dich.«

      Graham wischte den Speichel von den Lippen seines Vaters und hielt seine Hand.

      Als der Tod endlich kam, wurde sein Vater ganz ruhig und sagte ein letztes Mal: »Ich liebe dich, mein Sohn.«

      Abgrundtief erschöpft von seiner schier endlosen Wacht rieb sich Graham das Gesicht. Vor Frust, Angst und Trauer liefen ihm die Tränen über seinen hellbraunen Backenbart. Er hatte sich nicht mehr rasiert, seit die Welt zusammengebrochen war, und es war ihm egal, ob er sich jemals wieder rasieren würde. Nahrung und sogar die Luft, die er zum Atmen brauchte, hatten jegliche Bedeutung für ihn verloren. Er hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte ohne die Kraft und Orientierung, die ihm sein Vater gegeben hatte. Er weinte um ihn, wie er um die anderen vor ihm geweint hatte.

      Nach dem allerletzten, rasselnden Schluchzen seines Vaters holte Graham tief Luft. »Reiß dich zusammen«, hätte sein Vater streng gesagt. Er beschloss, sich daran zu halten. Jetzt war er das Oberhaupt des Clans, und er würde weitermachen, als ob noch eine Familie existierte, die es zu beschützen galt.

      Auch wenn es diesmal so schwer werden würde wie nie zuvor – er musste nur noch ein letztes Grab auszuheben. Es war ein schwacher Trost, aber für den Moment musste er genügen. Alle, die er jemals gekannt hatte, lebten nicht mehr: seine komplette Familie, alle Freunde, alle Bekannten. Vom einfachen Bettler bis zum reichsten Konzernlenker war keine soziale Schicht verschont worden. Sogar der Präsident war gestorben. Diese Pandemie praktizierte wahrhaft Chancengleichheit. Rassismus oder die Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Schichten ließ sich ihr jedenfalls nicht vorwerfen.

      Nur das schattige Morgenlicht leuchtete über ihnen, als sich Graham über die blau geäderten Augen des Mannes beugte, den er liebte und bewunderte. Dann schloss er diese Augen für immer.

      »Auf Wiedersehen, Dad«, flüsterte er und küsste ihn auf die Stirn. Mit geübten Bewegungen wickelte er die Ränder des weißen Bettlakens langsam um den Körper seines Vaters. Dann verließ er leise das Zimmer.

      ***

      Sein Vater hatte Graham um einen Platz zwischen den anderen vier Gräbern im preisgekrönten Rhododendrongarten seiner Mutter gebeten. Auf der einen Seite lagen seine Mutter und Nelly, auf der anderen seine Schwester und seine Nichte. So hatte es sein Vater gewollt, »zum Schutze der Ladys«, wie er gesagt hatte. Graham war von Anfang an klar gewesen, dass sein Vater, der immer ein Gentleman gewesen war, bis zum Ende durchhalten und sich erst nach den Damen des Hauses verabschieden würde.

      Jetzt im Oktober ließ es sich im weichen Lehmboden noch leicht graben, aber bald würde es kalt werden. Der herbstliche Regen war oft dicht und lang anhaltend, doch an diesem Morgen regnete es in Strömen. Er würde warten müssen.

      Graham fürchtete diese letzte Aufgabe fast so sehr, wie er sich davor gefürchtet hatte, seine geliebte Nelly zu beerdigen. Er ließ sich in den Sessel seines Vaters fallen und schluchzte unkontrolliert. »Was soll ich jetzt machen?«, schrie er, nahm sein Wasserglas und schleuderte es quer durch den Raum. Es zerschellte an der Wand.

      Aber die Antwort hatte er bereits. Sein Vater hatte ihn darauf verpflichtet, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Graham erinnerte sich daran, aber fragte laut: »Wozu?« Er schluchzte weiter, frustriert von den unbeantwortet bleibenden Fragen.

      Er verließ das Schlafzimmer, ging ans Fenster im Esszimmer und spähte hinaus in den Garten seiner Mutter. Er sah die verblichenen Blätter der Rhododendronbüsche. Die Erinnerung an ihre Frühlingsblüten ließ den Wunsch in ihm aufkommen, er könne seine Trauer irgendwie mit Nelly teilen.

       Nachdem die Pandemie ausgebrochen war, hatte er sich mit seiner Frau in das abgeschiedene Haus seiner Eltern geflüchtet. Hauptsache weg von dem Chaos, das in Seattle ausgebrochen war. Vergeblich hatte man versucht,