»Harro,« flüstert Alfred, »wohin? Nach dem Hause? Im Waldhaus haben wir nichts, niemand. Dort die Stangen.« Er steht auf und fliegt über die Wiese dahin zu dem verborgenen Schießstand. Von dem unglücklichen Schützen ist nichts mehr zu sehen. Alles muß dienen, die Jacke, das Taschentuch, starke Weidenzweige. In wenigen Minuten kommt er wieder und zieht eine rohe Bahre hinter sich her.
Harro hat versucht, seine Frau auf den Arm zu nehmen, aber dann stöhnt sie. – Er hätte auch nicht die Kraft, sie zu tragen. Wie betäubt ist er, und aus den Wäldern kriechen die Schatten, und es ist, als schauten große dunkle Augen heraus. Harro muß auch hergeben, was er entbehren kann, dann betten sie beide so sanft wie möglich die weiße Gestalt auf die Bahre. Harro wandelt wie im Traum. Vorwärts, über den feuchten grasigen Waldweg, wo zwischen den Stämmen schon die weißen Nebel ziehen. Die Last ist schwer für die beiden Männer, von denen der eine kaum erst über seine ganze Kraft verfügt und den andern das Entsetzen lähmt.
Da knallt eine Peitsche. – »Absetzen.« kommandiert Alfred, und er rennt durch das Unterholz in gerader Linie dem Schall nach. Ein verspäteter Kuhwagen ist's, mit einer Last Klee. Der Bauer entsetzt sich über den halbbekleideten Menschen. Endlich hat er begriffen. Nach der nächsten Telephonstelle soll er rennen, nach Brauneck telephonieren. Das neue Auto soll kommen, es ist ein Unglück geschehen ... Bald haben sie Rosmarie auf das grüne Lager des Klees gebettet, und gottlob, sie scheint es zu fühlen, sie streckt sich sanft aus. Alfred faßt die Kühe an den Köpfen, und Harro schreitet daneben, seine Hand auf der andern blassen Hand. Die gute Hand, – sie schmiegt ihre Wange daran. Langsam rumpelt der Wagen über die Waldstraße. Die dunkle Nacht bricht herein, und es funkeln die Sterne über dem traurigen Fuhrwerk. – Endlich ... der Thorstein.
»Märt,« stöhnt sein Herr. –
Da weiß der Märt, daß der große Schatten doch gekommen ist. Sie liegt noch kaum auf ihrem Lager, da ertönt ein ungefüges Quaken und schnurrendes Singen, und zwei große Sonnen als Laternen fährt das Auto in den Schloßhof. Und der Herr Hofrat und die Diakonisse entsteigen ihm. Es ist alles wie ein fürchterlicher Traum, aus dem man noch aufwachen kann. Steif und aufrecht steht Harro am Bett unten, während die beiden ihren Dienst tun. Nicht eine Muskel zuckt in dem Gesicht des Arztes, als er die kleine Wunde untersucht. Rosmarie öffnet hie und da die Augen, und ihre Hände heben sich ein wenig. Harro steht und wartet. Was er sagen wird, der Mann, der das Leben dort in seiner Hand hält. Jetzt winkt ihn der Hofrat mit den Augen hinaus. Sie stehen in der Goldhalle neben dem Kinderbrunnen. Alfred steht am Telephon, den Hörtrichter in der Hand und ein Kursbuch.
»Herr Graf, ich fürchte, die Kugel steckt unter dem Herzen, ich möchte einen der Würzburger Herren zu Rate ziehen!«
»Würzburg,« sagt Alfred Brandenstein in das Telephon hinein. Keine Sekunde verliert er. Der Hofrat diktiert Namen und Adresse und größte Eile. Das Auto muß auf den Schnellzug fahren, nur so ist's möglich. –
»Mit dieser Teufelskutsche ist alles möglich. Etwas Lebendiges, was zum Glück auf vier Füßen ging, haben wir schon unter uns gebracht. Nein, wir geben nicht alle Hoffnung auf. Herr Graf. Es wird ja eine schlimme Nacht geben. Professor Birt hat schon ebenso schwere Fälle durchgebracht. Wir müssen nur die Kraft erhalten ...«
Und dann stehen sie wieder in dem schönen Schlafzimmer, in dem ein fremder Geruch ist. Das Auto surrt durch die Nacht davon. –
Der junge Herr möchte den Grafen sprechen. –
»Harro,« sagt Alfred mit zuckenden Lippen, »das Mädchen im Waldhaus und das Kind. Soll ich nicht hinfahren und sie holen?«
Das Kind! Es ist bei dem Namen, als bräche ein Quell in seiner Brust auf. Er stöhnt.
»Ich gehe, Harro.«
Der Wagen rollt durchs Tor, und dann wird es still auf dem Thorstein. Harro setzt sich an das Bett, wo die blasse Hand liegt, die sich immer hebt und fällt. In dem schönen Gesicht ist ein fremder Zug, der sich immer mehr verstärkt. Es ist, wie wenn seine Pinsel um die Linien der Nase führen, daß sie plötzlich klarer und bestimmter werden. Erschreckend vornehm sieht das Gesicht aus, das immer noch der weiße Schleier umgibt. Die Lippen sind von einem seltsamen rötlichen Grau und die Augen ganz dunkel. Und Harro muß das sehen mit seinen Maleraugen. Er muß. Ein fremdes Licht auf der Stirne und weit offene, in dumpfer Qual aufschauende Augen.
Herr Hofrat...
Der weiße Flügel geht noch einmal vorüber. Hufe: der Fürst. Harro wirft dem Arzte einen flehenden Blick zu: Gehen Sie. Und der Hofrat geht hinaus. Er weiß, was er dem Herrn bringen muß. Und er sammelt alle Hoffnungsfäden auf. Und der Fürst ist seltsam und gefaßt. Er sagt:
»Gottes Hand ist über uns. Ich habe seit drei Tagen gefühlt, daß eine Wolke da hängt. Und nun ist der Blitz gefallen.«
Auch draußen donnert es leise, und Blitze weben ein leuchtendes Netz am Wolkenhimmel.
»Kann ich meine Tochter sehen?«
Wie Harro ihn sieht, erzittert er und umschlingt ihn mit seinen starken Armen:
»O Vater, einen Schritt vorwärts, wenn ich getan hätte, einen Schritt...«
»Mein armer Harro. Nein, es kann nicht Gottes Wille sein. Komm, lege dich. Ich kann ja bei meiner Tochter sitzen.«
Rosmaries Seele muß doch nicht so weit entfernt sein. Man sieht an ihren Augen, daß sie ihn kennt. Sprechen kann sie nicht mehr. Nur ihre Hand aufheben und sie wieder fallen lassen. Draußen rauscht mit tausend Güssen und Strömen der Regen hernieder. Ein Regen wie ein Wildbach, und der Thorsteiner Wagen kämpft sich mühsam seinen Weg zu dem schlafenden Kinde und der weinenden und betenden Lisa durch aufgeweichte und überflutete Wege. Von Fieber klappernd und laut wie ein Kind vor sich hinschluchzend sitzt der Brandensteiner auf dem Bock. Endlich bringt er seine Pferde glücklich in den Schloßhof hinein, wie draußen eine wahre Sintflut niedergeht. Und im Schlafzimmer ist große Not. Rosmarie will etwas sagen. Ach, wie ihre armen Augen flehen.
»Heinz wird gleich da sein, Alfred holt ihn.«
Ist es das? Nein.
»Der Vater?«
Er beugt seinen Kopf über sie, und sie flüstert mit höchster Anstrengung: »Der Landjäger...« und sieht ihn mit herzbrechender Angst an. Dann versinkt ihre Seele wieder ins Traumland.
Was meint sie? Sie können's alle nicht erraten, – hat sie je das Wort in den Mund genommen? Und sie spricht nichts mehr. Aber sie sehen alle deutlich, daß ein Kampf beginnt. Wie ein schwerer Stein muß es ihr auf der Brust liegen. Sie versucht immer wieder mit den Händen etwas hinwegzuheben. Endlich dämmert ein grauer Morgen durch den dichtesten Regenschleier. Der Herr Hofrat wandert mit der Uhr in der Hand die Treppen hinauf und wieder hinab.
Wenn die Teufelskutsche irgendwo angerannt ist! Hundertmal glaubt er durch den Sturm das Surren zu hören. Und jetzt... Es kann keine Täuschung mehr sein. Die zwei Sonnen den Berg herauf. Einen Blick wirft er auf Rosmarie und eilt hinaus.
Drei vermummte Gestalten: »Herr Professor« –, »Herr Kollege, lassen Sie mich meine Beine wieder finden, ich habe den Konnex mit ihnen verloren. Das war eine Fahrt. Lebt sie denn noch?«
»Ja, Herr Professor, aber es eilt!«
Dann sieht Harro durch den roten Nebel vor seinen Augen ein fremdes Gesicht auftauchen. Schmal, übernächtig, mit zwei brennenden Falkenaugen, fast wie die seinen.
Dann verbirgt er seine Augen, er kann nicht sehen, wie die fremden Männer mit dem hilflosen Körper umgehen. Immer noch ist's ein gräßlicher Traum, der Nachtmar –. Es ist jetzt schon ganz hell, und die Drosseln singen durch den Regen.
Und die Herren beraten. Lange. –
Der Fürst klopft bei ihnen an, er hält es nicht länger aus. »Herr Professor, es ist mein einziges Kind.« Fast kindlich blicken seine dunklen Augen.
»Durchlaucht, das Mögliche wird geschehen. Aber wir fürchten uns beide vor der Möglichkeit, daß die Gräfin die Operation