Eines Abends hält ihn seine Schwester sehr spät auf. Er gähnt verstohlen, zündet sich die zehnte Zigarette an und erklärt endlich, er fürchte morgen Temperatur zu haben, wenn er sich jetzt nicht zurückziehe. Seine Schwester, welche fast eben solche Zigarettendämpfe entsendet wie er, entläßt ihn endlich. An der Tür ruft sie ihn noch einmal zurück. Es fällt ihr etwas ein, was sie notwendig haben muß. Er kann es ihr holen. Von der Dienerschaft ist niemand mehr auf, das elektrische Licht in den Gängen muß er selbst ausdrehen. Sie braucht die graue Truhe aus der Sommerstube. Von des Fürsten Schreibtisch, sie hat etwas hineingelegt, was sie morgen in aller Frühe fortbesorgen muß. Ach, er wird sie leicht finden. Halb schon eingeschlafen, geht er hinüber, dreht das Licht auf und sieht sich das schöne Bild über dem Schreibtisch an.
Nettes kleines Mädel, gähnt er, und richtig, da ist die Truhe. Augen hat sie! So ein famos gemaltes Bild ist doch reichlich lebendig. Wie wenn sie das Köpfchen nach ihm wendet, als er das Zimmer verläßt. Seine Schwester steht vor ihrer Türe und nimmt ihm nachlässig die Truhe ab. Und dann geht er gähnend in sein Zimmer.
Nettes, seines, weißes Mädel. Kann sich hübsch herausgewachsen haben, die Feindin. Die Feindin, das Wort kitzelt ihn. Gott, die Charlotte wird eifersüchtig sein! Und ein Wort verfolgt ihn, bis er sich glücklich zwischen seine Laken gestreckt hat in dem Braunecker Gastbett aus dem roten Turm. Die Lindenprinzessin... Am andern Morgen weiß er ganz genau, daß er von dem berühmten Bild gehört hat. Aber er ist nicht so töricht und grün, daß er etwa seine Schwester danach fragte. Doch bei dem gemeinsamen Frühstück erzählt ihm der Fürst sehr bereitwillig und stolz von dem Bilde. Und heitert sich sichtlich dabei auf. Seine anfänglich trübe Laune entschuldigt er und sagt, daß er sich mit leerem Magen geärgert habe, weil er das Schloß an seiner Truhe verdreht habe.
Dem Herrn Schwager läuft plötzlich eine Röte über seinen kurzgeschorenen, weißglänzenden Kopf. Himmel! Wenn die Charlotte ihn zu einem Fischzug in verbotenen Gewässern benutzt hätte. Und ein sehr bedrücktes Gefühl dem Manne gegenüber, der ihn mit so viel Freundlichkeit überschüttet hat, würgt ihn. Selbstverständlich ist der Inhalt des eheherrlichen Schreibtisches nicht immer eine für die Gattin geeignete Lektüre! Gestern hatte er nur Kulidienste zu verrichten geglaubt. Wie er da hinausschlendert, die Hände in sein Jackett vergraben, in den allerschönsten Maisonnenschein, hört er förmlich seinen Vater sagen:
»Dein bodenloser Leichtsinn, der dir immer erst den Tag nachher gestattet, deine Taten zu bedenken, wird dich noch überall unmöglich machen!« Ganz niedergeschlagen wandert er im Park umher. Er geht in den Stall, sieht in die Boxen hinein und auf die klugen schönen Köpfe der Pferde, die sich nach ihm wenden. Da ist sein Goldbaby. Scheußlich, das würgende Gefühl, wie er das schöne Tier ansieht. Mit eingezogenen Schultern klopft er bei seiner Schwester. Sie sieht grau und übernächtig aus – der hübsche Alfred bedenkt schon, ob schleunige Flucht nicht das beste sei. Aber seine Börse ist schlapp, sehr schlapp. Zu Hause! Brrr...
»Charlotte,« beginnt er, »die Truhe, es war eine Dummheit –« Sie wird noch einen Schein grauer.
»Weiß er?«
»Nein, er meint, er habe das Schloß verdreht. Charlotte, es war nicht übermäßig schön von dir. Er ist nett gegen mich gewesen, und nun habe ich ein direkt scheußliches Gefühl, wenn ich an seinem Tisch sitze.«
Sie braust auf: »Es war mein Recht, das ich mir genommen habe.« Der Tunichtgut der Familie Brandenstein zuckt die Achseln. »Wird es jetzt große Szenen geben?«
»Gar nichts wird es geben. Du irrst dich, mon ami!«
»Aber gewiß nicht? Na, dann ist's gut.«
Er schüttelt einen Druck ab, den er für seine Verhältnisse schon ungewöhnlich lange getragen hat. Aber er beschließt doch ein wenig Vorsicht gegen seine Schwester walten zu lassen. Sie kommt ihm, trotzdem sie ihn noch weiter zu beruhigen weiß, doch vor, als ob sie eine Warnungstafel umgehängt bekommen müßte:
»Vorsicht! Leicht entzündlich!«
Aber er ist nicht gewohnt, auf einem Gedankengange lang zu verweilen. Und der Morgen ist herrlich. Als er seine Schwester zurückbegleitet hat, haben weder er noch der Gaul genug.
»Charlotte, ich muß mich noch ein wenig tummeln.«
»Alfred, der Doktor hat dir keine zu langen Ritte erlaubt.«
»Ach, nur noch ein wenig.« Und er trabt davon.
Der Tunichtgut wirft seinen Kopf in die Luft wie ein junger Hund, der einen Knochen wittert. Die Lindenprinzessin! Die schöne Frau von Thorstein. Ist es nicht allmählich Zeit, daß er dort Besuche macht? – Aber merkwürdig, sein Abenteuer von gestern scheint einen weisen Mann aus ihm gemacht zu haben. Nein, er will Charlotte nicht reizen durch einen Besuch bei ihrer Feindin. Nein, er will den Wald nur umkreisen, und wenn er jemand von der Familie sehen sollte, so ist es nicht seine Schuld. Es ist schon mächtig warm, und er fühlt, daß seiner Schwester Warnung nicht so ganz unberechtigt ist. Er kann, einmal im Walde, nur noch Schritt reiten, und zuweilen überfällt ihn eine jämmerliche Schwäche. Und den Reitknecht hat er natürlich zurückgeschickt. Und nun schwimmt es ihm plötzlich vor den Augen. Ja, wenn er nur jetzt glücklich von dem Gaul herunter wäre! Da hält jemand das Pferd an.
»Mann, kommen Sie herunter, Sie schwanken ja!«
Er fühlt sich herabgleiten in jemandes kräftige Arme. Dann liegt sein schwimmender Kopf auf etwas Weichem, Duftendem, ja nach Rosen Duftendem. »O Gott, Harro, glaubst du, daß er stirbt?« Und eine feine Spitzenwolke fährt ihm über die Stirne. So himmlisch ist's, daß er muckstill hält. Endlich muß er doch die Augen öffnen. Und gleich sehr weit. Die schönste Frau beugt sich über ihn und sieht ihn mit mitleidigen, sanften Augen an.
Sein Glück hat ihn direkt in die Arme der Schönen getragen. Er zieht es vor, noch einen Augenblick den toten Mann zu machen. Herzlich schlecht ist es ihm ja, aber sein Herz lacht wieder. Der andere hat mit dem unruhigen Pferd zu tun. Er hört ihn befehlen, daß man ihm den Kragen öffne. Und nun fühlt er die feinen Hände an seinem Halse. Sehr geschickt ist sie nicht, aber desto angenehmer für ihn. Und nun entschließt er sich, definitiv ins Leben zurückzukehren. Er schlägt die Augen auf, sehr hübsch und hellblau sind sie, und murmelt:
»Innigsten Dank,... eine kleine Schwäche –«
»Nun ist er wieder, Rose. Es ist Alfred Brandenstein. Das ist ja Goldbaby.«
Und der das Pferd gesichert, kommt herbei.
»Ein wenig besser sehen Sie schon aus. Können Sie gehen? Unser Waldhaus ist ganz in der Nähe, und Sie können sich dort erholen.«
Und Alfred geht noch kreideweiß mit zusammengebissenen Zähnen über die Waldwiese. Die Schöne, – was ist sie nun?... Nichte, Stief- zwar, – geht an seiner Seite. Bald liegt er behaglich in einem Stuhl verpackt auf der Veranda. Rosmarie bereitet ihm Brötchen, und der Hausherr bringt einen Kirschbranntwein herbei und schilt ihn freundlich aus.
»Wenn Sie uns nicht gefunden hätten, so wäre Ihnen niemand beigestanden, Sie hingen ja nur noch in Ihren Gräten.«
»Es kam so plötzlich. Ich habe eine schwere Malaria gehabt. Und nun habe ich Sie erschreckt, Cousine.« – Nichte – dabei kommt er sich zu onkelhaft vor. Rosmarie ist glücklich, daß sich ihr Patient wieder erholt. Sie hat einen großen Schrecken gehabt, und sie versichert ihm: »Wenn Harro nicht gewesen wäre!«
Der junge Herr erlebt eine wundervolle Stunde unter dem blühenden Kastanienbaum. Sie könnte noch länger ausgedehnt werden, aber er darf nicht zu lange wegbleiben, und seiner Schwester gedenkt er sein Abenteuer nicht zu erzählen. Und die junge Frau ladet ihn zum Wiederkommen ein. Nur der Hausherr redet keinen Ton darüber, begleitet ihn aber bis zum Waldeingang und führt sein Pferd. Dann