Dieser Tag wurde gefeiert und als Fest im Kalender bezeichnet. Auch ließ sich der Kleine durch kein Vorsagen oder sonstige Mittel, auch durch seine wachsende Sprachfertigkeit nicht, bewegen, den Namen zu ändern. Er zeigte darin, wie Harro erklärte, das Erbteil der mütterlichen Hartnäckigkeit. Noch hatte ihn fast keine Hand als die seiner Eltern berührt.
»Nur so können wir ihn ganz kennen lernen, Rosmarie, wenn wir ihn immer um uns haben und ihm das Opfer an Zeit und Behagen bringen. Denke daran, was der Jammer deiner Kindheit war, daß dich bezahlte und beständig wechselnde Menschen umgaben, die dich von deinem Vater fern hielten. Wir sehen ihn in all seinen Zuständen und nicht nur, wenn er uns wohldressiert und gerade in guter Laune vorgeführt wird. Und ich habe mir eine ausgezeichnete Kenntnis des Kinderkörpers erworben, was mir sehr not tat, und obgleich dein Sohn kein raffaelischer Engel ist.«
Harro hat dicke Skizzenbücher voll mit wenig Strichen hingeworfener Zeichnungen von liegenden, krabbelnden, badenden, schreienden, schlafenden Heinz Friedrichs.
Und Rosmarie wünscht sich gar kein anderes Dasein. Auch daß ihr Kind den Vater bevorzugt, findet sie nur gerechtfertigt. Ich hätte es gerade so gemacht, denkt sie. Und sie weiß ja ganz gut, daß ihr auch ein Teil der kleinen Seele gehört, nur ein anderer. Harro gehört der lebhafte, unternehmende, lustige, wilde Heinz; ihr gehört er, wenn es ihn anwandelt, daß er mit großen blauen Augen in irgendeine Herrlichkeit hineinstaunen muß. Dann hat er ein Engelsgesichtchen, was man sonst von seinen schon recht kräftigen Zügen durchaus nicht sagen kann. Auch seine Schmerzen, und es gehen viel Wolken an einem Tag über die empfindliche Kinderseele, selbst in der denkbar glücklichsten Umgebung, bringt er zu Mama. Im Atelier hat er sein Ställchen, wo sein stets zusammengeballter Teppich und seine geliebten Filzbären sind, und nachts schläft er neben Vaters Bett. Ist er in aller Morgenfrühe nicht mehr zu bändigen, so wird er hinausgetragen – Mama schläft noch – und gewaschen und angezogen und kommt dann ins Ställchen. Seine Badezeit muß sehr weise ausgewählt werden, denn nachher beglückt er seine Eltern mit einem längeren Schlafe. Abends hat er seine Eltern so reichlich getummelt, daß sein Verschwinden in dem weißen Gitterbettchen mit einem Seufzer der Erleichterung begrüßt wird.
»So geht es auch nicht weiter, Rosmarie, er wird lernen, auch zwei Minuten hintereinander ohne uns auszukommen. Aber es ist jetzt die Zeit, wo er in seinem ganzen Leben am intensivsten lernt. Innerhalb eines Jahres lernt er eine Sprache, von allen Gefühlen kommt ein Hauch über sein Herz.
Mit dem Ende des zweiten Jahres ist sein kleines Weltbild fertig, er kann sich davon absondern, davor hinstellen und sagen: Ich.«
Der Winter fliegt ihnen nur so dahin im Goldhaus. Harro modelliert in Wachs, das er tönen will, die Maria aus der alten Krippe, die ihr Haar als Wiegenvorhang über ihr Kind hält, in halber Lebensgröße nach Rosmarie und dem schlafenden Heinz. Und er malt eine Sommerwiese mit einem sich darauf tummelnden Engelreigen. Und die Engel sind immer noch flügellos, was ihrer Leichtigkeit keinen Abtrag tut.
Fünfunddreißigstes Kapitel.
Der Tunichtgut
In Brauneck ist die Luft so schwer geworden, daß der respektlose Harro sich durch ein Festmahl dort an das Mahl von Bannokburn erinnert fühlt.
Der Fürst hat ja zum Glück sehr viel zu tun. Es sitzt ein junger, sommersprossiger Herr, Doktor Felsing, im Bibliothekturm unter einer Last alter Papiere und mit Siegeln behängter Pergamente. Zuweilen tauchen beim Diner ältere befrackte Herren auf, Geheimräte, wirkliche und unwirkliche. »Was wollen die eigentlich?« fragt die Fürstin mit mattem Interesse.
»Sie beraten mich in einer Rechtssache.« Und das Interesse der Fürstin erlischt wieder. Und eines Tages verwundert sich Harro, was Vater wohl für einen Prozeß habe. Darüber wird Rosmarie rot, und nun weiß die Fürstin: Sie weiß darum. Nun ist die Fürstin sicher, daß sie es erkunden muß. Und die Sache ist ja eigentlich einfach herauszubringen. Sie darf nur einmal bei Nacht in die Sommerstube gehen, die Truhe öffnen auf dem Schreibtisch, worin der Fürst die Briefe verwahrt, die tagsüber eingelaufen sind, die er selbst beantwortet. Und findet sich nicht an einem Tage etwas, doch am andern.
Aber das ist auch nur ein müßiger Gedanke. Sie wird ja nie den Mut haben, durch alle die Gänge zu gehen, in denen immer ein Wind seufzt, und die Truhe ist ja verschlossen. Aber sie denkt doch hie und da daran, wie man Truhen öffnet....
Die Luft in Brauneck wird nicht leichter, und dem Fürsten wird immer klarer, daß etwas geschehen muß. Nur weiß er nicht, was.
Da bringt ein unerwarteter Brief eine freudige Aufregung für die Fürstin.
Ihr Bruder schreibt, ihr jüngster Bruder. Ihr Tunichtgut von einem Bruder, der alle Karrieren, die er glänzend begonnen, eben so schnell wieder beendet hat. Zuletzt war er in den Kolonien und ist krank gewesen und nicht nur zur Erholung, sondern für dauernd nach Hause geschickt worden. Zu Hause empfangen ihn ein väterliches Donnerwetter und mütterliche Tränenströme. Die arme Reichsgräfin Brandenstein hat zu viele Kinder. Zwei oder drei Kindern wäre sie eine gute Mutter gewesen, sie hat aber deren sieben. Und immer die Lebensnöte des einen Kindes löschen die des andern wieder aus. Nur für diesen Zweitjüngsten hat sie noch einmal zu einer Liebe Mut gefaßt, und gerade dieser muß ihr den meisten Kummer bereiten. Charlotte ist glänzend versorgt, und wenn sie nicht zufrieden ist, so ist das ihre eigene Sache. Die Stieftochter, von der sie so entsetzlich gequält wurde, ist verheiratet. Und daß sie keine Kinder hat, ist schmerzlich, aber sieben Kinder sind auch eine Qual, besonders wenn man mit einem Male so gar nichts mit ihnen anzufangen weiß wie mit dem armen Alfred. Sein Vater benennt ihn mit etwas anderen Namen und droht ihm täglich mit einem Billett zweiter Klasse Norddeutscher Lloyd Bremen-Baltimore.
Der Aufenthalt für den jungen Herrn unter dem väterlichen Dache wird dadurch sehr ungemütlich, »Feuer bei Papa, Wasser bei Mama,« schreibt er und fleht seine Schwester Charlotte um eine dauerhafte Einladung an. »Bis sich etwas gefunden hat.« Daß das geschehen wird, ist ja dem schönen Alfred todsicher. Eine Lebensangst hat ihn nur einmal angewandelt, als er unter dem Wellblechdache an Malaria erkrankte. Jetzt ist er noch etwas blaß, abgemagert, braun und nicht ganz so elegant wie in früheren Zeiten, auf dem Weg nach Brauneck.
Über seinen Briefen ist die Fürstin wieder geworden, was sie früher war. Alfi wird kommen, eine andere Luft mitbringen, zusammen werden sie sich über die Braunecker Familiengötzen lustig machen. Sie wird reiten mit ihm, sie wird mit ihm auf die Jagd gehen, er wird seine Schnurren erzählen, und sie wird wieder lachen lernen. Gott: sie ist so jung, sie hat sich ja nur einsargen lassen, sie darf ja nur den Deckel sprengen, um wieder zu leben.
Und der Fürst merkt, daß ihre Laune sich wendet, und ist sehr erfreut darüber und empfängt seinen Schwager mit der größten Liebenswürdigkeit. Bietet ihm gleich ein Reitpferd zu seinem ausschließlichen Gebrauche an und bespricht mit ihm die Anschaffung eines Autos, mit dem er seine Frau zu überraschen gedenke. Der junge Herr ist ganz erstaunt über so viel Entgegenkommen, das hat er nach Charlottes Klagebriefen nicht erwartet. Und er findet, daß es sich in Brauneck leben läßt. Etwas ermüdend zwar ist Charlottes beständige Gesellschaft, aber im ganzen fühlt er sich doch im Hafen und für den Augenblick aller Sorge ledig. Und seine Schwester lebt auf. Sie lacht über seine Witze, sie reitet mit ihm, sie schießen, und Alfred bewundert ihre Treffsicherheit, die von Arno Schwelm herstammt, und sie errötet über sein Lob.
Die Thorsteiner erscheinen nicht. Der kleine Heinz ist geimpft worden und hat es sehr ungnädig aufgenommen. Sie sind wieder in das Waldhaus übergesiedelt, denn Harro sieht sich zu seinem großen Ärger wieder genötigt, Ferien zu machen. Die Fürstin hat das Gefühl, nur so lange ihr Bruder nicht bei den Thorsteinern gewesen sei, gehöre er ihr ganz. Er soll nicht hinüberreiten und bei ihrer Feindin Besuche machen. Mit der Zeit werden sie schon herüberkommen, dann ist ein Zusammentreffen unvermeidlich, aber so lange sie nicht täglich mit diesen Thorsteinern geärgert werden muß, ist es doch schöner, teilt sie