»Aber Harro, sagen Sie das doch nicht,« und Alfred bricht in ein krampfhaftes Weinen aus: »Warum denn nicht mich? Warum denn nicht mich?« Der Fürst sieht ihn mit erstaunten Augen an.
»Ja. Wie kamst du denn gerade dahin?«
Aber Harro führt den schwankenden Menschen fort und übergibt ihn dem Märt und schickt den Hofrat zu ihm hinauf. Dann kommt er wieder zu dem Fürsten herunter, und sie geben sich stumm die Hand. Und auf Harros Haar ist ein silberner Reif gefallen.
Der träge Morgen geht dahin, aber wie die Stunden schleichen, bringt doch jede ihr Hoffnungslämpchen mit. Der Fürst schläft ein wenig, aber Harro, so entsetzlich müde er ist, wagt es noch nicht. Er fürchtet sich noch zu sehr vor dem Erwachen. Und es kommt der düstere, regenschwere Abend. In der Tantenstube weint der kleine Heinz und ruft kläglich: »Mama ... Alo...« Er schluchzt sich in einen solchen Jammer hinein, daß sich Lisa bei ihrem Herrn Hilfe holt. Harro erhebt sich schwer. Das muß auch sein! Sein Kind hat er noch nicht wieder gesehen. Sein armes Kind! Wie er sich über das Bettchen beugt, worin das Kind liegt, hört das Schluchzen auf. »Alo.« Aber es gibt ihm noch Herzstöße, daß der kleine Körper bebt.
»Alo, Alo!« Sie sind also nicht beide fortgegangen und haben dich allein gelassen in der fremden Welt. Harro trägt ihn auf das Wickelkissen und legt, wie er alle Abend getan, seinen Kopf neben das Kind. Aber heute greift es nicht nach seinem Haar. Nur die blauen Kinderaugen sehen ihn groß an. »Mama«. Harro schießen die Tränen übers Gesicht, und nun fängt das Kind wieder zu weinen an; nur leise und kläglich, die kleine Seele ist erschöpft. Harro nimmt ihn auf die Arme und trägt ihn hin und her, in seinen Teppich gehüllt, wie er einst das Seelchen getragen. Da schläft er ein.
Harro geht zu Alfred hinüber. Jämmerlich und seltsam sieht er aus. »Alfred,« fragt Harro und greift nach seiner Hand, »was ist mit Ihnen? Sie zittern ja wie Espenlaub!«
»Wie danke ich Ihnen, daß Sie mich da behalten! Ich will Ihnen gewiß nicht lange Mühe machen. Ich kann noch nicht nach Brauneck zurück. Ich habe einen Schauder davor bekommen.«
»Nein, so dürfen Sie mir unter keinen Umständen hinüber. Bleiben Sie liegen! Ohne Widerrede!« Harro legt ihm die Hand auf die Schulter. »Regen Sie sich nicht auf, Alfred! Sie bleiben bei mir und halten still! Sie haben gestern für Ihre Kräfte Ungeheures geleistet. Wir werden Sie schon wieder heraufpäppeln, und dann dürfen Sie Farben reiben!«
Große Tränen laufen über Alfreds Wangen.
»Oh, warum ging ich nicht einen Schritt weiter vor!«
Drüben in Brauneck und in den anderen Förstereien werden die Förster vernommen. Sie sind alle unterwegs gewesen, haben alle das gleiche Jagdgewehr, dem der gefundene Rehposten ungefähr entspricht, getragen. Zwei sind sogar über einen Zipfel der Römerwiese gegangen und haben von ferne den Schuß gehört. Keiner kann beweisen, daß er es nicht gewesen sein kann, keinem kann man aber einen leichtfertigen Schuß zutrauen. Zudem durften sie ja gar nicht schießen. Es sind lauter tüchtige, schon länger im Dienst befindliche Leute.
Ein paar verdächtige Burschen nimmt der Landjäger mit, muh sie aber wieder laufen lassen, weil sie beweisen können, wo sie waren. Auch der Leibjäger der Fürstin wird schließlich vernommen. Aber er hat Ihre Durchlaucht begleitet. Ihre Durchlaucht hat in der Kreuzklinge einen Bock geschossen. Am Ausgang der Kreuzklinge gegen Rappoldsweiler zu hielt das Break. Von da aus ist er mit ihr nach Brauneck gefahren
»Ist er immer bei der Frau Fürstin geblieben?«
Er hat den Bock aufgebrochen, und die Frau Fürstin ist derweilen in der Kreuzklinge zur Höhe gestiegen. Er hat sie dann am Kreuzweg getroffen.
Zur Kreuzklinge? Das ist nicht sehr weit von der Römerwiese. Hat er einen Schuß gehört? Es ist ihm einmal so vorgekommen. Der Mann hat das Eiserne Kreuz und ist seit dreißig Jahren in Brauneckschem Dienste. Er ist sehr erschüttert und schluchzt ein paarmal auf... Die Frau Gräfin ist ja bei den Leuten so sehr beliebt.
Im Wald bei der Kreuzklinge in einem der Erdfälle, wie sie dort häufig sind, in denen zuweilen noch Dachse hausen, finden die streifenden Landjäger einen Menschen bei einem sonderbaren Frühstück. Es besteht aus Champagner, Speck und Käse. Für die Landjäger genügt die Zusammensetzung, um den Menschen festzunehmen. Und im Dachsbau liegen wollene Decken, Kleider und Stiefel, eine Ziehharmonika, Uhren und Revolver und eine fürstliche Jagdflinte, auch ein halbes ausgeweidetes Reh.
In der letzten Zeit sind in der sonst ganz sicheren Gegend viele Einbruchsdiebstähle vorgekommen. Man vermutet eine ganze Bande, und in jedem einzelstehenden Haus sucht der Hausherr eine alte Waffe hervor. Bis zur Nachtwächterhellebarde und dem Kirchenspieß. Nun war die ganze Bande in der Person des einsamen Frühstückers gefangen, und dieser entpuppte sich als ein entsprungener Sträfling. Er wurde in Haft genommen und ein Karren herbeigeschafft, auf dem die bunte Beute verladen ward. Das Gewehr war in einer Wirtschaft gestohlen worden, wo ein Jäger vielleicht etwas zu lang beim Biere gesessen hatte. Das Kaliber des Geschosses stimmte auch. Der Mensch leugnete zwar, den Schuß abgegeben zu haben, aber seine Personalien enthielten über siebzig Vorstrafen, auch hatte er noch verschiedene Jahre gut.
Immerhin nahm das Gericht auch hier nur einen unglücklichen Schuß an, denn was sollte dem Menschen der Mord der Dame nützen, die von zwei Herren begleitet war! Gewildert hatte er auch. Die Landjäger vermochten kaum den Menschen vor den Fäusten der Bauern zu schützen. Wären es nicht ihrer fünf gewesen, es wäre ihm übel ergangen. Das Gefängnis nahm ihn wieder auf, und dem umfangreichen Material über ihn fügten sich weitere Aktenstöße bei. – Die Volksseele ist erleichtert, daß es keiner aus der Gegend ist, sondern ein Fremder. Nur einem Fremden ist eine solche Summe von Freveltaten zuzutrauen.
Am Abend fährt der Fürst nach Hause. Als er langsam und todmüde durch den Geweihgang schreitet, findet er die Fürstin seiner wartend auf der Schwelle der Sommerstube. Sie haben sich ja seit dem Unglück nicht gesehen. Ein letztes schweres Abendrot verglimmt am Himmel, und das rote Licht füllt die Sommerstube. Die Fürstin sieht heute so auffallend schöner aus als sonst, daß es ihm selbst in seiner tiefen Traurigkeit auffällt. Und sie sagt:
»Es ist also jetzt Hoffnung vorhanden, Fried?«
»O gewiß. Sehr gute Hoffnung.«
Er wirft sich in seinen Stuhl.
»Eine furchtbare Nacht, ein entsetzlicher Morgen, Charlotte. Ohne dein Auto wäre sie verloren gewesen!«
»Hat sie wohl gelitten?« fragte die Fürstin.
»Sie war nicht ganz bei Bewußtsein... Sie wollte etwas sagen und konnte nicht, qualvoll war das.«
»Sie konnte nicht,« echote die Fürstin.
»Nun hat Harro mit ihr gesprochen. Und wieder sagt sie das gleiche Wort: Der Landjäger. Was sie sich nur dabei vorstellt? Sie will offenbar nicht, daß dieser unglückliche Schütze festgenommen wird.«
»Sie will es nicht,« sagt die Fürstin. Es ist wunderlich, wie ihre Stimme klingt. Und sie hat noch kein Wort der Teilnahme gefunden. Er hebt seine müden Augen zu ihr auf. Wird sie denn keines finden! Auch in dem furchtbaren Jammer nicht, der ihn betroffen hat!
Groß und strahlend sind ihre Augen und mit einem ganz leisen Lächeln in den Mundwinkeln steht sie da. Und es fällt ihm plötzlich Harros Bild ein.
»Welch ein Glück, daß die Gefahr schon vorüber ist, Fried!«
»Wir hoffen's, Charlotte... Aber ob sie ihre Frische je wieder erlangen wird! Das konnte mir der Professor nicht versprechen.«
»Ach, sie ist ja so jung, Fried.«
Der rote Schein ist verglommen. Eine schwere Düsterkeit erfüllt die hohe Stube. Die Augen des Seelchen schauen wie durch einen grauen Schleier nach dem Fürsten. Die Fürstin zuckt zusammen.
»Was ist da oben, Fried?«
Eine Fledermaus ist hereingekommen und fliegt in zackigen Kreisen an der Decke. Wie eine unruhige Seele.
»Eine Fledermaus, sie wird schon