Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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Arzt, dachte sich Alexandra, war eben doch eine Autorität. Sogar für ihre Kinder. „Du bist ganz sicher in den Farbkübel gefallen?“ Max nickte. „Und wobei hast du dich dann an der Oberlippe verletzt?“ Max zögerte. „Umgefallen. Und da draufgefallen!“ Er zeigte auf seine Oberlippe. „Und das Kinn?“ Max’ Augen sprangen zwischen Alexandra und Doktor Jelinek hin und her. „Zuerst da drauf.“ Er zeigte auf seine Oberlippe. „Und dann hierher!“ Sein Daumen wies auf das Kinn. Alexandra und der Arzt warfen sich vielsagende Blicke zu. Es war klar, dass Max log. Er hatte sich das alles zusammengereimt. „Kannst du mal kurz draußen warten? Du kennst ja das Spielzimmer?“ Max nickte, rutschte vom Behandlungstisch und war wenige Sekunden später verschwunden.

      „Der junge Mann ist eindeutig verprügelt worden! Und die Täter haben ihn dann in einen Farbkübel gesetzt. Danach wahrscheinlich noch mit irgendeinem Werkzeug, einem Stock oder einem Brett, das sie in Farbe getaucht haben, geschlagen.“ Alexandra seufzte. „Die Frage ist nur, warum er das nicht zugibt.“ Doktor Jelinek legte die Hand ans Kinn und kraulte seinen kurz geschorenen grauen Bart. „Er steht unter Druck. Jemand hat ihm gedroht, ihm noch etwas Ärgeres anzutun, wenn er redet. Diese Strategie funktioniert bei Kindern in seinem Alter noch recht gut.“ „Aber er war bisher noch nie ein Mobbing-Opfer. Warum jetzt?“ Doktor Jelinek nahm seine Brille ab und wischte mit einem Putztuch daran herum. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht redet er ja morgen. Gab es in Ihrer Familie irgendeine dramatische Veränderung? Ein Todesfall vielleicht?“ Alexandra war wie vom Blitz getroffen. „Kein Todesfall!“ Sie schnappte nach Luft, Doktor Jelinek zog die Augenbrauen hoch. Natürlich hatte es eine dramatische Veränderung gegeben, und sie hatten von Max verlangt, sie geheim zu halten. Aber er hatte sich wahrscheinlich verplappert, dafür Prügel bezogen und traute sich nun nicht, ihr die Wahrheit einzugestehen. So musste es sein.

      Der Arzt drang nicht weiter in Alexandra und erhob sich. „Jedenfalls sollten Sie die Kleidung nicht waschen, da müssten Spuren der Schläge drauf sein. Das ist immerhin der Tatbestand der Körperverletzung, ich würde das anzeigen. Eigentlich sollte ich das selber tun, aber ich möchte Ihrer Entscheidung nicht vorgreifen …“

      Vor dem Einsteigen ins Auto kniete sich Alexandra hin und betrachtete Max’ Gesicht. Er sah wirklich zum Fürchten aus. „Du hast jemand von dem Lottogewinn erzählt, und dann bist du verprügelt worden, weil du angegeben hast, stimmt’s?“ Max schüttelte den Kopf, aber in seinen Augen konnte Alexandra sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

      Anstatt nach Hause zu fahren, hielt Alexandra nochmals vor Max’ Schule. Dass sie den Parkplatz für Lehrerinnen benutzte, war ihr in diesem Fall egal. Sie hoffte, wenigstens die Direktorin noch anzutreffen. Die Sache, fand sie, war gleich zu klären und duldete keinen Aufschub.

      Ihr Handy dudelte. Sie hatte völlig auf Annika vergessen. „Ja, bitte mach dir selber was Einfaches zu essen. Ich bin mit Max unterwegs, es hat da ein kleines Problem gegeben.“ Sie wimmelte die Fragen Annikas ab, legte auf und klopfte am Direktionsbüro, während Max an ihrer Hand zerrte. „Nicht! Ich will heim!“ Doch ihre Hand schloss sich fest um die seine. Es kam gar nicht infrage, jetzt unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren.

      „Ja?“ Wintersteller hieß die Direktorin, das konnte Alexandra schnell noch von einem Schild ablesen, bevor sie eintrat. „Oh Gott!“, rief die, als sie Max erblickte. „Darf ich aus Ihrem Besuch und dem Aussehen Ihres Sohnes schließen, dass da Gewalt im Spiel war?“ Schwer von Begriff war die Frau Direktorin nicht. Alexandra war erleichtert. „Nehmen Sie bitte Platz. Was kann ich für Sie tun?“ Alexandra begann zu erzählen.

      „Und das Problem ist, dass wir von den Kindern verlangt haben, nicht über den Gewinn zu sprechen. Wahrscheinlich hat sich Max verplappert, das war einfach zu viel verlangt von ihm.“ Sie strich ihm durch die Haare. Max schien das Gespräch unangenehm zu sein. Er hatte ein winziges Spielzeugauto aus einer Hosentasche gezogen und fuhr damit unter Brummgeräuschen auf dem Schreibtisch der Direktorin herum. Rund um den Radiergummi.

      Frau Wintersteller nickte und legte einen Finger an die Lippen. „Tolles Auto, Max. Hast du noch mehr davon?“ Max nickte, ohne aufzusehen. „Weißt du, Max, so etwas kommt leider oft vor. Dass einer von Älteren verprügelt wird. Und die drohen dann. Sie sagen zum Beispiel, dass sie dir dein Handy wegnehmen und es in den Fluss werfen, wenn du zu Hause was erzählst.“ „Hab kein Handy!“ Max schob weiter sein Auto. Die Direktorin lächelte und nickte Alexandra zu. „Oder sie sagen, dass sie dich einsperren und windelweich prügeln. Oder sie verlangen, dass du ihnen dein Taschengeld gibst.“ Beim letzten Satz horchte Max auf. Alexandra wartete gespannt. Plötzlich schüttelte Max den Kopf. „Hat Basti nicht getan!“ Das Auto umrundete ein weiteres Mal den Radiergummi, während die Direktorin und Alexandra einander in die Augen sahen. Frau Wintersteller ließ sich zu einem siegesgewissen Lächeln verleiten. „Was genau hat Basti nicht getan?“

      Ein paar Minuten später kannten sie die ganze Geschichte. Sebastian, ein Schüler aus der vierten Klasse, hatte Max abgepasst. „Sebastian ist groß und kräftig, fast ein Jahr älter als seine Mitschüler, er war in der Vorschule“, erklärte Frau Wintersteller. Zwei weitere Burschen aus seiner Klasse hatten ihm Rückendeckung gegeben. Dann hatten sie Geld gefordert. Max sei reich, er habe Millionen gewonnen.

      „Warum hast du denn erzählt, dass ihr jetzt viel Geld habt?“, fragte Frau Wintersteller ruhig. Max zuckte mit den Schultern. „Der Flo hat so angegeben. Dass sich sein Vater einen Porsche kauft und so. Und einen Pool und alles. Und dass er eine Riesenparty schmeißt, zu seinem Geburtstag. Und da hab ich gesagt …“ Schon begann er zu schluchzen. Alexandra nahm ihn in den Arm. „… dass wir auch ganz viel Geld haben. Hundert Milliarden oder so. Hat Papa in der Lotterie gewonnen.“ „Hundert Milliarden?“, fragte Alexandra erstaunt nach. Max schluchzte. „Weil doch der Flo gesagt hat, dass sein Papa ein Millionär ist und …“ Max heulte und barg sein Gesicht in Alexandras Schoß. „Und weil du ein kluger Bursche bist und weißt, dass eine Milliarde mehr ist als eine Million …“ Frau Wintersteller lächelte. Max nickte, ohne den Kopf anzuheben. Alexandra streichelte ihm Haar und Rücken.

      Sie hatten Max auf die Baustelle gedrängt und gefordert, er müsse ihnen am nächsten Tag hundert Euro bringen, sonst würden sie ihn von der Eisenbahnbrücke werfen. Dann hatten sie ihn mit Faustschlägen zu dem Farbeimer gedrängt, der auf der Baustelle zufällig herumgestanden war. Nachdem sie ihn hineingeschubst hatte, hatten sie selbst noch herumliegende Bretter in die Farbe getaucht und Max damit geschlagen.

      „Max, kannst du kurz einmal draußen warten?“ Max sah auf. Die Aussicht, dem unangenehmen Gespräch zu entkommen, schien ihm zu gefallen. „Und vergiss das Auto nicht!“ Er griff rasch danach, sprang von seinem Stuhl und verließ das Direktionszimmer.

      Als die Tür zufiel, seufzte die Direktorin. „Sebastian also. Wir haben gerade erst eine Klassenkonferenz hinter uns, in der wir überlegt haben, das Jugendamt einzuschalten. Extrem schlechte Arbeitshaltung, keine Schulsachen, keine Hausübungen, Gewaltausbrüche, mangelhafte Konzentration. Kein Kontakt mit den Eltern herzustellen. Selbst Anrufe bringen nichts – sie versprechen, demnächst zu kommen, tauchen aber nicht auf. Soziale Verwahrlosung.“

      „Max hat von dem Kind nie etwas erzählt …“, warf Alexandra ein. „Er ist auch nicht in Max’ Klasse. Wahrscheinlich hat er irgendwie mitbekommen, dass Sie viel Geld gewonnen haben, so was spricht sich ja rasch herum.“ „Aber die Summe …?“, bemerkte Alexandra. „Da machen Sie sich einmal keine Gedanken!“ Frau Wintersteller machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kinder sind fürchterliche Klatschbasen, hören nicht genau zu und übertreiben beim Weitererzählen, dass sich die Balken biegen. Nur, damit sie die Aufmerksamkeit der anderen möglichst lange halten können. Tatsachen spielen dabei keine Rolle.“ Alexandra hatte den Eindruck, dass die Direktorin wusste, wovon sie sprach.

      „Ich denke, dieses Mal werden wir nicht umhinkommen, dem Jugendamt Meldung zu erstatten. Allerdings wird es für Max in den nächsten Wochen dennoch nicht leicht werden. Sorgen Sie bitte dafür, dass er keine teuren Konsumartikel bekommt oder in die Schule mitbringt. Und, auch wenn es möglicherweise Ihren Prinzipien widerspricht – reden Sie nochmals mit ihm. Es wäre wirklich besser, wenn er den Gewinn nicht mehr erwähnt.“ Alexandra traten schon wieder die Tränen in