»Falls Brutus Spuren hinterlassen hat, wurden sie zerstört. Der Mann mit dem Müllsack hat den Tatort verunreinigt.«
»Falls, Patrick.«
Arkady spürte ihr Bild über seinem Herzen. Der Gedanke an Jessicas nacktes Fleisch, ihr Engelshaar und ihr hübsches Gesicht erregte ihn. Sie wartete auf ihn, bis er sie hervorholen würde. Sie war ihm zu Diensten, wann immer er es wollte.
Er schloss die Augen und dachte an sie. Anfangs war es ihm schwergefallen, sich ihren nackten Körper auf der Matratze vorzustellen. Wieder und wieder hatte er sie betrachtet, bis er sich an jedes Detail ihres Körpers erinnern konnte. Ihre allseits verfügbare Nacktheit berauschte ihn und gab Arkady das Gefühl, noch lebendig zu sein.
»Du musst ihn verstehen, Paty-Boy. Er ist voller Wut. Sie bricht aus ihm heraus, reißt ihn mit sich. Er sticht zu. Er fühlt nicht, ob es ein Stich ist oder Hunderte sind. Er fühlt nur die Befreiung, die Befriedigung und Leichtigkeit, die die Wut in ihm ersetzen. Er fühlt sich frei.
Die Jagd und das Töten sind die wichtigsten Handlungen in Brutus Leben. Es ist sein Ziel. Jede Sekunde des Tages verbringt er in Gedanken damit. Nur durch das Töten fühlt er sich besser. Die Jagd ist sein Lebensinhalt. Er streift durch die Stadt. Er sucht nach einem Opfer. Er hofft auf einen Zufall, der ihn zu ihr führt. Die Stadt ist voller Menschen, rechne dir aus, wie viele davon Frauen sind. Wie viele von diesen Frauen sind blond? Wie viele färben sich die Haare blond? Etliche unter ihnen sind schlank und schön, unabhängig ihres Alters. Brutus sucht die Schönheit. Er findet sie täglich. Doch er kann sich meist nicht nehmen, was er findet. Menschen sind um seine potenziellen Opfer herum. Er kann nicht an die Frauen heran, die er töten möchte. Er folgt ihnen mit Blicken. Er geht ihnen hinterher. Er nutzt die Masse als Tarnung, die ihm das Glück des Tötens verweigert. Er hofft, alle Menschen außer ihm und der Frau würden verschwinden. Er sucht eine Situation, in der ihm der Zufall in die Hand arbeitet. Eine schöne blonde Frau zu finden, ist nicht alles für Brutus. Sie muss allein sein.
Patty-Boy, die Umstände sind es, die Brutus zum Verzweifeln bringen. Er muss töten und er kann es nicht. Er ist wie ein ausgehungertes Tier, das Nahrung sucht. Er leidet, denn der Zufall ist meist gegen ihn. Die Gier in ihm wird größer, der Frust wächst, und wenn er dann zur rechten Zeit am rechten Ort eine Frau stellt, ist es Erfüllung und Glück. Er wird zu Gott und nimmt ihr Leben.
Das Wie ist dabei für ihn entscheidend. Er hat eine Fantasie. Er bildet sie nach. Er formt die Realität. Jede Banalität am Tatort kann eine Bedeutung für ihn haben, die nur er kennt. Je komplexer seine Fantasie ist, je mehr ein Tatort und eine Leiche arrangiert sind, desto mehr Hinweise hinterlässt er und umso größer ist sein Risiko, gefasst zu werden. Brutus folgt seiner Fantasie, imitiert sie in der Realität. Meist versagt ein Serienkiller daran. Die Realität kommt der Fantasie nur selten gleich. Es spornt Brutus an, es besser zu machen. Es treibt ihn an, ein neues Opfer zu suchen.
Verstehst du, Patrick? Brutus ist voller Wut, er übertötet seine Opfer. Sie einmal niederzustechen, reicht ihm nicht. Er ist voller Emotion, und dennoch macht er keine Fehler. Brutus hinterlässt keine Spuren. Jeder Tatort ist voller Blut, doch es gibt keine Fußabdrücke. Es findet sich kein Fingerabdruck, kein Haar, keine Hautschuppe. Er muss sich schnell bewegen, zustechen, zurückweichen. Er sieht ihnen beim Sterben zu, dann geht er weg und durchlebt das Gesehene hunderte Mal in seinen Gedanken. Er geilt sich daran auf. Leider lässt der Rausch für ihn nach. Eine ähnliche Tat noch einmal zu erleben, ist weit emotionaler, als die Erinnerung des Mordes zuvor. Der Druck in ihm steigt an und wieder beginnt er nach einer Frau zu suchen, an der er seine Fantasie ausleben kann. Er wird nicht aufhören, und er wird einen Fehler machen. Irgendwann, vielleicht, wenn dieses Telefon das nächste Mal klingelt.«
Patrick schwieg. Was hätte er schon anmerken können, außer ein paar Allgemeinplätzen. Er fühlte sich wie ein Anfänger. Er war ein Anfänger. Es war sein erster großer Fall.
Arkady stülpte den Papierhut über das Telefon.
– 27 –
Der Sack war dreißig Kilo schwer, hing regungslos von der Decke. Zwei Mal die Woche prügelte Helen auf ihn ein. Sie war keine gute Boxerin. Es war auch nicht wichtig. Ihre Schläge öffneten ein Ventil. Der Sack, auf den Helen einschlug, hatte einen heimlichen Namen. Sie hatte ihn Anne getauft. Helen schlug auf die Rivalin ein. Es fühlte sich gut an.
Oft war Helen in ihrer Kindheit von ihren Brüdern geschlagen worden. Sie war die Jüngste gewesen und hatte lernen müssen, sich zu behaupten. Seit damals war Helen eine Kämpferin. Auch im Sport wollte sie eine sein. Bauch, Beine, Po war für Frauen wie Anne. Boxen war für Helen.
Helen hatte eine Karriere in der Stadt gesucht. Fremd und allein hatte sie sich gefühlt, bis sie sich gezwungen hatte, sich der Stadt zu stellen, sie zu begehen, ihre schönen und hässlichen Seiten kennenzulernen. Plätze des Verfalls und der Armut hatte sie gefunden, aber auch Reichtum und Protz. Glas- und Stahlbauten ragten in den Himmel und sahen über das Elend darunter hinweg. Alte renovierte Bauten, rüttelten den Glanz vergangener Tage wach. Shopping Malls für eine privilegierte Minderheit. Reichtum für wenige, umgeben von einem Gürtel aus alten, verfallenen Bauten. Feucht waren sie, muffig, dunkel, nicht mehr zu sanieren. Ganze Stadtteile ähnelten einander. Viele der Gebäude standen leer und waren nicht mehr bewohnbar. Junkies, Punks und Stadtratten, die Legion der Obdachlosen, schlief darin, neben Getier und Dreck.
In der Nacht zog sich die Legion in die Abrisshäuser oder den Park zurück. Sie versteckten sich vor der Polizei. Wer in der Dunkelheit angetroffen wurde, musste damit rechnen, aus der Stadt gebracht und im Niemandsland ausgesetzt zu werden. Unverletzt blieben nur wenige dabei. Dies war Polizei-Politik. Eine Stadt, die ohne Geld ihre Probleme nicht lösen konnte, suchte und fand Alternativen.
Helen hatte es mit eigenen Augen gesehen. Eines Abends nach dem Training waren sie verfrachtet worden. Wie Vieh hatten Polizisten eine Gruppe Obdachloser zusammengetrieben, in zwei Busse gesteckt und aus der Stadt gebracht.
Iacub war schwach. Seine Schwäche war auch eine Tugend. Mit den Polizisten und ihrer Jagd auf sozial Aussätzige, hatte er nichts gemein. Helen lebte für Iacub. Sie arbeitete für und mit ihm und war doch nur die Nummer zwei in seinem Leben. Anne kontrollierte die Ehe und bestimmte über ihren Mann. Helen verspürte Abneigung gegen Machtmenschen, sie hasste Anne.
Ständig hatte sie Iacub gebeten, Anne zu verlassen. So oft hatte sie die Hoffnung auf Freiheit in seinen Augen gesehen.
Stets schlug diese Hoffnung in Resignation um.
Es war alles Annes Schuld.
»Anne.«
Helen hämmerte gegen den Boxsack. Kraft, keine Eleganz, steckte hinter diesen Schlägen, und Kraft würde Helen benötigten, wollte sie Iacub nicht endgültig an seine Frau verlieren.
Wieder und wieder schlug Helen zu, spürte den Schweiß von ihrer Stirn in die Augen rinnen. Die Muskeln in ihren Armen brannten, wurden müde und schwer. Unablässig schlug sie weiter. Dumpf klatschten ihre Hände gegen den Sack, mischten sich mit ihrem Keuchen und hallten von den Wänden der Boxhalle wider.
Helen war gern hier.
Im Geiste war Iacub bei ihr. In all den Monaten hatte sie etwas über ihn gelernt. Er wollte Karriere machen, und dazu benötigte er Anne und nicht Helen. War Iacub ein wahrer Freund? Helen fürchtete sich vor einer Antwort, zu sehr freute sie sich darauf, ihn in ihre Arme zu schließen, sobald die Galerie am Morgen eröffnen würde.
– 28 –
Helen war allein. Weiße Räume, helles Licht. Die Kühle der Klimaanlage sperrte die Hitze dieses seltsamen Frühlings aus. Helen fühlte sich von der Kunst an den Wänden beobachtet. Jim Morrison und Jimi Hendrix starrten sie an. Ihre Gesichter bestanden aus Bandsalat, waren alten Audiokassetten entnommen und zu den Gesichtern der Musiker modelliert. Die Tonspuren führten von den Köpfen zurück in die Audiokassetten. Wie