Auf Socken schlich sie den oberen Flur entlang, bis sie die Tür des Arbeitszimmers ihres Vaters erreicht hatte. In seinem Büro hatte er an der Wand neben seinem Schreibtisch ein antikes Ithaka-Jagdgewehr aufgehängt.
Sie bemerkte, dass die Bürotür unverschlossen war. Als sie eintrat, begrüßte sie der altbekannte Geruch vom persönlichen, stillen Rückzugsort ihres Vaters: Leder, Tabak und natürlich sein Old-Spice-Aftershave. Glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit kamen ihr in den Sinn.
Alles war so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte: ein schwarzer Drehstuhl aus Leder hinter seinem Holzschreibtisch sowie zwei rötlich-braune, dick gepolsterte Barstühle aus Leder – jeweils einer in den zwei Ecken an der Tür. Jede Ecke und jeder Winkel war mit allen möglichen Gegenständen gefüllt. Die wertvolle Ithaka-Bockdoppelflinte ihres Vaters befand sich über der Bronzestatue eines halbwilden Pferdes und dem Globus. Ihr blasser Schaft aus Nussbaum schimmerte, und das Licht des Flurs wurde in den kostbaren Verzierungen auf dem gebläuten Metall reflektiert.
Cade hatte sie kurz in die grundlegende Handhabung einer Schusswaffe eingewiesen. Jedes Mal, wenn sie zusammen zum Zelten fuhren, übten sie ein wenig Zielschießen.
Brook nahm das Gewehr herunter und öffnete den Verschluss. Wie sie vermutet hatte, war es nicht geladen. Nachdem sie geräuschlos in ein paar Schubladen herumgewühlt hatte, fand sie einige lose Patronen und lud vorsichtig beide Kammern. Danach ging sie die Stufen langsam – eine nach der anderen – hinunter. Mit der geladenen Flinte in ihrer Hand versuchte sie die Geräusche zu ergründen und blieb auf der untersten Stufe stehen, um zu lauschen.
Was sie hörte, erinnerte sie an einen großen Hund, der gefräßig Dosenfutter verschlang. Das Gewehr war bereit und entsichert, als sie sagte: »Mama, Papa … seid ihr es? Ich hab Papas Flinte dabei, sie ist geladen.«
Im selben Moment dachte sie: Jetzt hab ich meinen Vorteil verspielt, wenn ein Einbrecher im Haus ist.
In diesem Moment ertönte ein klagendes, eindringliches Stöhnen aus der Küche, bei dem sich ihre Nackenhaare aufstellten. Obwohl sie den Drang zur Flucht verspürte, blieb sie zwischen der Küche und dem Esszimmer stehen. Als sie den Kopf nach rechts drehte, konnte sie die blutbespritzten Travertinkacheln unter der aus schwarzem Granit bestehenden Kochinsel sehen. Sie sahen aus wie der Boden eines Schlachthauses. Auf ihrem Weg in die Küche bemerkte sie, dass Frühstückszutaten auf der Kochinsel standen. Eier waren auf dem Fußboden zerbrochen; eine Plastikgallone mit Milch lag auf der Seite, aus der die meiste Milch auf den Boden geflossen war. Ein strenger Kupfergeruch hing in der Luft, der stärker war als der Duft vom Potpourri ihrer Mutter. Beim Anblick, Geruch und der Menge des Blutes musste Brook würgen. Sie konnte einen Fuß auf der anderen Seite der Insel zucken sehen. Sie zwang sich, weit genug um die Ecke zu gehen, bis sie die Rückseite ihres Vaters erblickte, der noch immer im Schlafanzug war und sich zu ihrer Mutter geneigt hatte. Sie ließ die Flinte fallen und näherte sich hektisch den beiden, wobei sie rief: »Papa, was ist mit Mama passiert? Hast du schon die 911 angerufen?« Er stand langsam auf und drehte sich zu ihr. Statt – wie erwartet – mit Schmerz und Angst konfrontiert zu werden, stand sie seinem blassen, schwachen Gesicht, seinen blutigen Zähnen und ausdruckslosen glasigen Augen gegenüber, die ihren Blick niederzwangen. Ohne groß nachzudenken, brachte Brook das Gewehr in Anschlag, richtete es auf das, was einst ihr Vater gewesen war und trat einen Schritt zurück. Er kam unbeholfen, aber entschlossen mit gleichmäßigem Schritt auf sie zu. Sie hatte das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Brook blickte in Richtung der untersten Treppenstufen zurück, wo Raven mit weit aufgerissenen Augen beobachtete, wie sich das grauenvolle Geschehen weiter entwickelte. Raven schrie: »Großvater!«, als er sich dem gefährlichen Ende seiner eigenen Flinte näherte. Als Brook ihre Aufmerksamkeit wieder auf den herankommenden Zombie richtete, fällte sie im Bruchteil einer Sekunde die Entscheidung, die ihr Leben rettete. Wie Cade es ihr beigebracht hatte, zielte sie und drückte ab. Das kleine Treppenhaus wurde von einem ohrenbetäubenden Knall erschüttert. Durch den Rückstoß des großen Gewehres fiel sie – den Lauf nach oben gerichtet – nach hinten. Die Munition sprengte den Zombie in die Luft, der am Nacken und unterhalb des Kinns getroffen wurde. Kieferknochen und Zähne brachen. Sein Kopf schnellte zurück und blieb zunächst zwischen den Schulterblättern hängen, bevor er sich dort löste, herunterfiel und außer Sichtweite unter den Tisch rollte. Für einen kurzen Augenblick zitterte der Körper ihres Vaters und kippte schließlich wie ein gefällter Baum in Zeitlupe um. Der kopflose Körper schlug wie ein zu Boden gehender Boxer auf die Fliesen. Brook rannte um die Kochinsel; und was sie dort sah, widerte sie an. Es war kaum genug vom Nacken ihrer Mutter übrig geblieben, um nach dem Puls zu tasten. Durch ihre Ausbildung zur Krankenschwester wusste Brook, was zu tun war. Sie legte die Flinte beiseite, ergriff prüfend ein Handgelenk, konnte aber keinen Puls fühlen. Sie fiel neben ihrer Mutter auf die Knie und weinte hemmungslos. Nach einem kurzen Augenblick der Trauer raffte sich Brook auf, nahm das Telefon und wählte 911. Eine Ansage teilte ihr mit, dass alle Leitungen besetzt waren. Sie versuchte es mehrere Male, hörte aber immer nur dieselbe Information. Mit ihrer Tochter im Schlepptau flüchtete Brook aus dem Haus; zusammen gingen sie zur nächsten Tür.
Kapitel 6
Tag 2 - Southeast Portland
Die Jungen sagten kein Wort, als sie dem Mann folgten. Alle drei begannen zu schwitzen. Es war Juli; am späten Vormittag war es schon 24 °C warm und wahrscheinlich würden bis zum Mittag knapp 30 °C erreicht werden.
Cade kehrte auf einem anderen Weg zu seinem Haus zurück für den Fall, dass die Toten ihn verfolgt hatten. Als sie noch einen Block von seinem Haus in östlicher Richtung entfernt waren, hörten sie zwei Untote, bevor sie sie überhaupt sehen konnten: eine Frau mit einem blutgetränkten Baumwoll-Sommerkleid, das an ihrem Körper klebte, und einen Mann fast ohne Gesicht. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift ›Pabst Blue Ribbon Bier‹, Cargoshorts und nur einen Flipflop, der beim Laufen auf den Bürgersteig schlug.
Cade dachte: Wahrscheinlich ein Studentenpärchen vom Reed College in den Sommerferien. Sie sehen ganz nach ›Schule ist für immer vorbei‹ aus.
Alle drei duckten sich und verhielten sich still. Gerade, als das untote Paar an ihnen vorbei ging, kam Cades Nachbar Rawley langsam die Straße in seinem älteren weißen Ford Bronco hinuntergefahren. Cade ärgerte ihn nur zu gern wegen des O.J.-Simpson-Wagens, den er fuhr. Der Bronco schlitterte, als Rawley ihn plötzlich vor dem grünen Haus – zwei Grundstücke weiter unten und gegenüber von Cades Haus auf der anderen Straßenseite – anhielt. Es schien, als hätte Rawley eingekauft, denn er trug eilig Tüten und Kartons seine Treppe hinauf und ins Haus. Ihre Aufmerksamkeit wurde geweckt, als das infizierte Collegepärchen Rawley bemerkte und Kurs auf ihn nahm. Markerschütterndes Stöhnen und der auf der Straße klappernde einzelne Flipflop des jungen Burschen kündigten das Näherkommen des Paares an. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, sprang Rawley in den noch laufenden Geländewagen, kürzte die Straße mit einer weit gefahrenen U-Kurve ab und raste an den beiden vorbei. Dies veranlasste sie zu einer erneuten Richtungsänderung; nach einer schwerfälligen Kehrtwende verfolgten sie den weißen Bronco.
***
Rawleys Haus grenzte an eine Gasse, wo er üblicherweise seinen Truck parkte. Cade nahm an, dass er dorthin unterwegs war.
Die dreiminütige Ablenkung ermöglichte es dem Trio, heimlich von Osten her in die Gasse und weiter zur Rückseite von Cades Haus zu schleichen. Um nicht entdeckt zu werden, knieten sie sich in das oberschenkelhohe Gras in der Nähe des rückwärtigen Zaunes. Nachdem Cade sich davon überzeugt hatte, dass die Luft rein war, half er den Jungs nacheinander, aufzustehen und über den Zaun zu klettern. Schließlich übersprang er ihn selbst und prüfte nochmals, dass sich niemand außer ihnen im umzäunten Hinterhof befand. Der Hof war leer und die Hintertür noch immer verschlossen. Alles schien in Ordnung zu sein, und im Haus war es ruhig, als sie die Küche betraten.
Sie wohnten in einem braunen, zweistöckigen Haus im Craftsman Style, zu dem auch eine Doppelgarage gehörte; die Zufahrt fiel ca. 30 Fuß zur Straße hinab. Neben der Straße öffnete sich ein mit Vorhängeschloss gesichertes Holztor, das genauso hoch war wie der restliche Zaun, zum Hinterhof. Die Vordertür