»Nun hast du es überstanden, chérie, noch ein paar Tage und alles ist in Ordnung ...«
Worte, vor denen ihm graute. Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er konnte in dieser mageren häßlichen Kranken nichts von Juliette wiedererkennen. Alles Vergangene war mit furchtbarer Gründlichkeit aus dem Leben getilgt. Er versuchte aufmunternd zu lächeln:
»Es ist sehr schwierig, aber hoffentlich werden wir dich genügend ernähren können ...«
In ihren Augen stand noch immer das klare und wache Nichts. Hinter diesem Nichts versteckte sich aber dennoch die Angst, seine Worte könnten die gute Kruste durchstoßen, die sie vor dem Einbruch der Welt noch schützte. Juliette schien kein Wort gehört zu haben. Da ging er hinaus.
Gabriel Bagradian verbrachte nun die meiste Zeit im Scheichzelt. Er vernachlässigte seine Befehlshaberpflichten, weil er keinen Menschenanblick ertrug. Nur Awakian überbrachte ihm dreimal täglich eine Situationsmeldung, die ohne das Zeichen des geringsten Interesses schweigend entgegengenommen wurde. Gabriel trat jetzt fast niemals vor das Zelt. Nur im geschlossenen Raum, in der Finsternis oder wenigstens im Halbdunkel ertrug er das Leben. Halbe Tage lang ging er auf und ab oder lag auf Stephans Bett, ohne daß ihm auch nur eine Stunde Schlaf geschenkt wurde. Solange der Leichnam des Knaben noch auf der Erde weilte, hatte Gabriel mit höllischer Vergeblichkeit sich sein Bild in den Geist zu rufen versucht. Nun, da Stephan schon einen Tag und eine Nacht unter der dünnen Erdschicht des Damlajik lag, nun kam er ungerufen zu jeder Stunde. Der Vater empfing ihn, regungslos auf dem Rücken liegend. Stephan war in dieser Phase seines Todes durchaus nicht verklärt, sondern brachte jedesmal seinen blutigen Körper mit. Er dachte nicht daran, Papa zu trösten oder gar ihm zu verraten, daß er in seiner Umarmung gestorben sei, ohne viel zu leiden. Nein, er wies ihm jegliche von seinen vierzig Wunden, die breiten Bajonett- und Messerstiche im Rücken, den Kolbenhieb, der sein Genick zerschmettert hatte, und das Gräßlichste, die klaffend durchschnittene Kehle. Der Tote ließ nichts nach, als wolle er vorerst abrechnen, ehe er seinen schmählich mißhandelten Knabenleib zu vergessen gedenke, diesen wohlgeborenen Leib, der nicht dazu bestimmt gewesen, das väterliche Blut auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk zu vergießen, sondern es weiterzugeben von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gabriel mußte jede dieser vierzig Wunden bis zum Grund ausfühlen. Vergaß er eine, so haßte er sich selbst. Er weckte in sich mit höchster Deutlichkeit das Gefühl des ins Fleisch eindringenden Stahls, wie er brennend die Haut durchschneidet, die Nerven, die Muskeln und furchtbar an den Knochen stößt. Er vergegenwärtigte sich in seinem eigenen Nacken den schmalen Knabennacken, den der Kolben des Mausergewehres zermalmt. Immer wieder begann er mit diesen quälerischen Übungen von neuem, und sie waren in ihrer Bestimmtheit noch eine Wohltat gegenüber den nebligen Überfällen des Schuldbewußtseins. Nun war er in seinem Schmerz zu Hause wie ein Blinder in seiner Wohnung, der jeden Winkel und jede Kante unfehlbar ertastet. In diesen Stunden, da Stephan bei ihm zu Besuch war, duldete er auch Iskuhi nicht. Blieb aber der Tote aus, liebte er es, wenn sie bei ihm saß und ihre Hand auf sein nacktes Herz legte. Dann konnte er sogar ein paar Minuten lang schlafen. Er hielt die Augen geschlossen. Iskuhi aber spürte, wie das dumpfe Pochen unter ihrer Hand scheu wurde. Seine Stimme kam von fernher:
»Iskuhi, womit hast du das verdient? Es gibt so viele, die gerettet sind, die in Paris leben oder woanders ...«
Sie näherte ihren Kopf der Hand, die auf seiner Brust lag:
»Ich? Ich habe doch alles Gute und du hast alles Böse. Ich bin glücklich und hasse mich, weil ich jetzt glücklich bin ...«
Er sah sie an, ihr weißes Gesicht mit den großen Augenschatten, das nur mehr der Hauch eines Gesichtes war. Ihre Lippen aber erschienen ihm überaus rot. Er schloß die Augen von neuem, weil alles wieder mit Stephans Gesicht zu verschwimmen drohte. Iskuhi aber zog langsam die Hand von seiner Brust fort:
»Was wird geschehen? ... Wirst du es ihr sagen? ... Und wann? ...«
Er schien zuerst die schwere Frage nicht beantworten zu wollen. Dann aber richtete er sich plötzlich auf:
»Das hängt von der Kraft ab, die ich haben werde.«
Gabriel Bagradian bekam sehr schnell Gelegenheit, diese Kraft zu zeigen. Mairik Antaram rief nach ihm und Iskuhi. Juliette hatte sich das erstemal aufzusetzen versucht und einen Kamm verlangt. Als die Kranke Gabriel erkannte, erschraken ihre Augen. Sie suchte ihn mit ihren erhobenen Händen und wehrte ihn zugleich ab. Die Stimme aber in der geschwollenen Kehle gehorchte ihr noch immer nicht:
»Wir haben doch miteinander gelebt ... du ... sehr lange ...«
Er strich ihr prüfend über den Kopf. Sie sprach ganz leise, als wollte sie die Wahrheit nicht wecken:
»Und Stephan ... Wo ist Stephan ...«
»Sei ruhig, Juliette ...«
»Werde ich ihn nicht bald sehn dürfen ...?«
»Ich hoffe, daß du ihn bald wirst sehn dürfen.«
»Und warum ... darf ich ihn nicht jetzt schon sehn ... Nur durch den Vorhang ...«
»Jetzt kannst du ihn nicht sehn, Juliette ... Es ist noch zu früh.«
»Zu früh ... Und wann werden wir wieder beisammen sein, alle ... und weg von hier ...«
»Vielleicht schon in den nächsten Tagen ... Du mußt noch ein bißchen warten, Juliette.«
Sie glitt zurück und drehte sich zur Seite. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wüchse ein Weinkrampf in ihr. Zweimal überlief ein langes Zucken ihren Körper. Dann aber kehrte in Juliettens Augen wieder der leere und zufriedene Ausdruck zurück, mit dem sie heute zum Leben erwacht war.
Draußen vor dem Zelte hatte es den Anschein, daß Gabriel, von der scharfen Sonne geblendet, unsicher gehe. Iskuhi stützte ihn mit ihrer gesunden Hand. Er aber stolperte über irgendeine Unebenheit und riß sie im Sturze mit. Stumm blieb er liegen, als lohne es in dieser Welt nicht mehr, sich zu erheben. Doch auch Iskuhi sprang erst auf, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten. Sie erschrak zu Tode. War es der Bruder, der Vater? Gabriel wußte nichts von ihren Kämpfen, die sie ihm verschwiegen hatte. Stündlich erwartete sie einen Überfall durch die Ihren, obgleich sie Bedros Hekim zum Vater geschickt hatte, damit er ihm sage, daß Mairik Antaram ihre Hilfe brauche. Iskuhis Schreck war unbegründet. Nicht die Tomasians kamen, sondern zwei atemlose Boten aus der Nordstellung. Der helle Schweiß lief ihnen über die Wangen, denn sie hatten die lange Strecke in scharfem