Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835543
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Dir aber, Oskanian, will ich als Arzt zugute halten, daß du ein armer Irrer bist. Jener junge Mensch ist im März zu uns gekommen. Er hatte einen Empfehlungsbrief an den Apotheker. Um diese Zeit wußte noch nicht einmal der Wali von Aleppo etwas von Deportationen. Ist der Grieche schon etwa damals mit der Absicht zu uns gekommen, die neuen Weideplätze auf dem Musa Dagh den Türken als Spitzel zu verraten, he? Da sieht man, was für logische Köpfe auf dem Lehrerseminar in Marasch erzogen werden!«

      Hrand Oskanian, eine politische Hoffnung, wie es sich heute zeigte, wußte sehr genau, daß ein logischer Fehler seiner Sache nicht schaden könne. Folgerichtiges Denken erforderte Anstrengung, und anstrengen will sich niemand. Wenn man jedoch den Gegner verächtlich macht, so erweckt dies in einer Versammlung befriedigende Lustgefühle, und auf derartige Gefühle kommt es einzig an:

      »Es kann schon sein«, schlug er scharf zurück, »daß du einmal vor fünfzig oder sechzig Jahren Medizin studiert hast, Arzt, aber wer kann das heute noch nachprüfen. Manchmal ziehst du aus deinem alten Buch irgendwelche Würmer. Da kannst du dem Apotheker die Hand reichen. Der hat uns auch jahrelang mit seiner Bibliothek angeschmiert. Was wollt ihr wetten, die Hälfte seiner Bücher besteht aus leerem Papier, schön eingebunden? Vom Leben aber habt ihr alle dieselbe Ahnung, ihr Alten, sonst wüßtet ihr, daß die Regierung schon bei Kriegsbeginn in die armenischen Bezirke Spitzel entsandt hat, und zwar Christen, damit es nicht auffalle ...«

      Und er spielte seinen letzten an die Muchtars gerichteten Trumpf aus:

      »Das kommt alles daher, weil diese alten Herren mit der Familie Bagradian verbandelt sind, die solche Leutchen wie unsern Schatakhian hier für ihr Wuchergeld nach Europa schickt. Sind diese reichen Familien nicht an allem Unglück schuld? Sie gehören ja gar nicht zu uns, diese Levantiner! Wegen ihrer unsauberen Geschäfte muß das armenische Volk zugrunde gehn!«

      Damit wurde eine bedeutsame Saite in den bäurischen Seelen berührt. Thomas Kebussjan, fernen Erinnerungen hingegeben, schielte bekräftigend vor sich hin:

      »Schon der alte Awetis war so. Immer nur Geschäfte in Aleppo, in Stambul, in Europa. Bei uns hielt er es keine zwei Monate im Jahr aus. Ich aber habe mich nie fortgerührt. Hätte ich das nicht auch können, was glaubt ihr? Die Meinige hat mich genug geplagt ...«

      Vergessen und verworfen waren mit einemmal die Taten des Kirchenfürsten und Schulengründers, dessen Heimatliebe dem Tale von Yoghonoluk weit über seine Zeit hinaus Wohlstand und Segen gespendet hatte.

      Nun aber rührte es sich hinter dem Bücherturm. In dem schmalen Durchschlupf dieser Festung krümmte sich eine ächzende Gestalt im langen weißen Hemd. Krikor von Yoghonoluk, der Junggeselle, trug seit gestern sein Totenhemd. Da er nicht wollte, daß eine Nunik oder die Totengräber ihn mit dem Gewande der Auferstehung bekleiden, hatte er sich, soviel Mühe es auch kostete, diesen letzten Dienst selbst erwiesen, denn er wußte, daß er die Eroberung des Damlajik durch die Türken nicht mehr erleben werde. Seine gelben Wangen hatten so tiefe Löcher bekommen, daß man Fünfpiasterstücke hätte hineinlegen können. Die Schultern waren bis zu den Ohren hochgezogen, Arme und Beine zu gelenklosen Kolben angeschwollen. Als er zwischen den Büchermauern endlich festen Halt gefunden hatte, versuchte er seiner Stimme die gewohnte hohle Gleichgültigkeit des Weisen abzuringen. Doch es gelang ihm nicht mehr. Zitternd und abgerissen kamen seine Worte:

      »Dieser Lehrer hier ... ich habe an ihm gearbeitet und gearbeitet ... Jahrelang ... Das Blut der Gelehrten und der Dichter ... habe ich ihm eingeimpft ... Ich dachte, weil er begabt ist, kann ein Menschenengel aus ihm werden, einmal ... Aber, Irrtum ... Wer es nicht ist, kann es nicht werden ... Der denkt nicht immer nur an Kot, hab ich gemeint ... Aber dieser Lehrer ist viel, viel niedriger als die Armen, die nur an Kot denken ... Schluß mit ihm ... Mein Gastfreund aber ... ich hab's verschwiegen bisher ... Maris hat mir in die Hand versprochen ... in Beirût alles für uns zu tun ... bei den Konsuln ...«

      Krikor konnte vor Schwäche nicht weitersprechen. Oskanian aber fuhr dazwischen:

      »Und woher hat er seine Pässe? ... Leeren Reden glaubt ihr und sonnenklaren Tatsachen nicht ...«

      Den Muchtars schien ein großes Licht aufzugehen. Ja, woher hat er seine Pässe? Pastor Aram sprang auf:

      »Jetzt aber genug, Oskanian! Unerträgliche Narrheit! Eine Stunde ist vergangen, und kein Mensch hat ein vernünftiges Wort gesprochen. Und in drei Tagen werden wir nichts mehr zum Essen haben ...«

      Der schwarze Lehrer wurde von seiner eigenen Bosheit ohne Besinnung fortgerissen. Es war, als müsse er in diesen Minuten alles erbrechen, was sich in seinem ganzen Leben an Haß, Kränkung und Wut angesammelt hatte. Jener Klatsch stieg in ihm hoch, den selbst die ausgepichtesten Matronen nur zu flüstern wagten:

      »Aha, auch der Herr Pastor! Er kann ja nicht anders, seitdem er durch seine Schwester mit Bagradian verwandt ist.«

      Aram wollte sich auf Oskanian werfen, wurde aber von starken Armen zurückgezerrt. Der alte Tomasian, puterrot, schrie auf und schwang seinen Stock. Ter Haigasun aber war schneller als beide Tomasians. Er packte den Lehrer an seinem kragenlosen Hemd:

      »Ich habe dir lange Zeit gelassen, Oskanian, damit du beweist, was zu beweisen war. Jetzt haben wir alle erkannt, woher der ganze Gestank kommt und wer das Gift in die Seelen streut, das ich schon lange spüre. Das Volk hat dich unter die Führer gewählt, weil du ein Schullehrer bist. Ich aber stelle dich dem Volk zurück und werde es aufklären über dich. Und jetzt tu deine Ohren auf! Ich schließe dich von unseren Beratungen aus, für immer!«

      Hrand Oskanian schrie, er nehme diesen Ausschluß nicht zur Kenntnis, da er selbst mit der Absicht hierhergekommen sei, aus diesem Schwätzer- und Greisenverein auszutreten, den das Volk heute oder morgen auseinanderjagen werde, wie er es verdiene. Trotz der rasendsten Wortgeschwindigkeit jedoch konnte der ehemalige Schweiger seine Rede nicht vollenden, denn Ter Haigasun hatte ihn binnen wenigen Sekunden mit einem prächtigen Fußtritt ins Freie befördert und die Tür hinter ihm versperrt. Eine scheele Stille blieb zurück. Die Muchtars zwinkerten einander zu. In dem diktatorischen Vorgehen des Oberhauptes lag eine Gefahr, die nächstens irgendeinen andern treffen konnte. Ein Gewählter durfte doch nur von der gesamten Volksversammlung abgesetzt werden und nicht durch einen Funktionär, auch durch den höchsten nicht. Und während das Gespenst hoffnungslosen Verhungerns Sekunde für Sekunde mit Riesenschritten der Stadtmulde nahte, räusperte sich Thomas Kebussjan, wackelte mit der Glatze und erhob gewissermaßen einen verfassungsrechtlichen Einspruch gegen die Behandlung eines gewählten Mitgliedes des Führerrates. Ter Haigasun habe zwar das Recht der Entscheidung, aber immer erst dann, wenn die Annahme oder Ablehnung eines Antrags vorliege. Zum erstenmal begann sich die Opposition deutlich abzuheben. Außer den Muchtars gehörten zu ihr einige jüngere Lehrer und einer der Dorfpriester, der Ter Haigasun feindlich gesinnt war. Die beiden Tomasians saßen noch immer, vor Zorn und Verlegenheit schwitzend, unsicher im Kreis. Alle andern aber, Ter Haigasun voran, waren, ohne es zu wollen und zu wissen, zur Partei des abwesenden Bagradian geworden, der unsinnigerweise anstatt der großen Katastrophe in den Mittelpunkt der Tagung geraten war. Als Ter Haigasun grob alle weiteren Erörterungen abschnitt, um endlich zur Lebensfrage zu gelangen, da war es schon zu spät. Der verdächtige Lärm auf dem Altarplatz draußen erforderte ein rasches Eingreifen der Führung.

      Hrand Oskanian war nur ein schwacher Mann. In einem abendländischen Gemeinwesen hätte man ihn als ausgesprochenen »Intellektuellen« bezeichnen müssen, das heißt als einen durchschnittlich geschulten Menschen, der sich nicht durch Handarbeit ernährt und eine schwankende Seele besitzt, die ihren Platz im Kampf der rohen Gewalten nicht finden kann und, überall zurückgestoßen, sich hungrig nach Macht und Geltung verzehrt. Der Fall Oskanian wäre demnach unter anderen Umständen trotz aller Narrheit ein harmloser Fall gewesen. Hier aber auf dem Damlajik gab er Anlaß zu Bedenklichkeit. Hrand Oskanian stand völlig allein. Und doch hing er mit einer gewissen Welt zusammen, mit einer dunkeln und unbekannten Welt übrigens, die sich erst heute ein wenig bemerkbar machen sollte. Man hatte ihn gewissermaßen zum Regierungskommissär über diese Welt gesetzt. In dieser Rolle mußte er gerade als »Intellektueller« scheitern. Sein Unterliegen bezog sich nicht nur auf Sarkis Kilikian. Der Russe, obwohl der ungekrönte Fürst der Deserteure, war ein schweigsamer Einzelgänger. Wenn er auch immer wieder im Mittelpunkt irgendeines Geschehens