»Ihr wollt mich einfach sterben lassen?«, krächzt Brody. »Ich wusste, es gibt einen Grund, wieso die Stadt zum Himmel stinkt.«
Der Reverend zuckt die Schultern. »Nichts anderes, als was Sie die ganze Zeit vorhatten. Ich will, dass Sie in Ihren Truck steigen und durch den Ort fahren, und zwar so schnell, wie die scheiß Rostlaube kann.«
»Sie sollten mehr auf Schimpfwörter achten, Reverend. Die sind das Zeichen eines ungebildeten Mannes.«
»Tun Sie Ihren Job.«
»Wozu? Der Junge stirbt und …«
»Hört endlich auf, das zu sagen«, unterbricht mich Brody.
»… seine Freundin verblutet auf der Theke.«
»Stimmt.« Hill zeigt seine Zähne. »Aber sterben heißt, dass sie noch nicht tot sind. Ich denke, wenn Sie schnell machen und sie in Ihren Truck kriegen, können Sie sich immer noch drum kümmern. Ach, zum Teufel, ich werde mal nett sein und Sie sich bloß um das Mädchen kümmern lassen.«
»Können Sie das Mädchen nicht verschonen?« fragt Flo. »Sie ist doch schwanger, Herrgott noch mal.«
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, sagt Hill: »Genau wie Sie, aber Sie würden doch nicht erwarten, dass man Ihnen Ihre Sünden vergibt, nur weil Sie für einen Mann die Beine breitgemacht haben.«
Flo sieht weder geschockt noch verwirrt aus. Sie sieht wütend aus, und als sie Wintry anschaut, der neben Cobb bei dem Tisch kniet, an den ich mich zuerst gesetzt hatte, wird die Wut zu Scham. Aber Wintry scheint nicht mehr so unbewegt zu sein. Sünden, die Androhung der Hölle, Mord und Totschlag lassen ihn nicht mit der Wimper zucken, aber herauszufinden, dass er Papa wird, schon. Sein Mund steht offen, nur ein wenig, und ich nehme an, dass er etwas sagt, obwohl er nicht reden kann.
Donner rollt wie Geröll übers Dach.
Blitze zeigen mir Kadaver zählend in seiner Ecke.
Ich verspüre keinen Neid mehr. Stattdessen fühle ich mich etwas gestärkt, bin mir bewusst, dass all die langatmigen Passagen in der Bibel über das Leben und den Tod und Heimzahlung vielleicht doch etwas bedeuten. Alles, was wir kennen, was wir, so lange ich mich erinnern kann, gekannt haben, ist der Tod. Jetzt aber gibt es Leben. Selbst wenn wir dem armen Brody und Carla nicht mehr helfen können, selbst wenn wir ihr Baby nicht retten können, ist Flo trotzdem schwanger, und diese simple Tatsache bedeutet so viel, dass mir der Kopf wehtut und mein Herz etwas schneller schlägt. Flo, ein Wesen des Todes, trägt Leben in sich. Unverdorbenes Leben. Ein Leben, das trotz Reverend Hills Drohungen und seines Gebarens außerhalb seiner Reichweite ist. Fürs Erste.
Flo ist schwanger.
Und ob sie dieses noch leere Etwas nun mit Hass oder Traurigkeit oder Sünden füllt, bedeutet es für mich doch ein ganz klein wenig Hoffnung.
Es reicht.
Und es scheint, als ob es nicht nur mir so geht.
Ohne dass irgendwer von uns (inklusive des angeblich allwissenden Reverend) hört, dass er sich genähert hat, steht Kyle wieder mit der Entschlossenheit, die ich drei Jahre lang in seinem Gesicht gesehen habe, neben dem Priester. Die Pistole, die heute so viel bewegt hat, ist fest von seiner Hand umklammert und presst ihren Lauf an Hills Schläfe.
»Ich fahre heute Abend nicht«, sage ich dem Priester, aber Kyle hat andere Pläne.
»Doch, du fährst.«
Ich sehe ihn an, frage mich, ob er auf diese Weise endlich seinen langverstorbenen Vater loswerden will. Einen Mann, der trotz aller Albträume und all der Menschen, die er für andere getötet hat, sich nur wegen des einen Todes schuldig fühlt, den er nicht verursacht hat. So kaltherzig es auch klingt: Ich denke, dass darin viel Wahrheit liegt.
»Du und ich und der Reverend werden heute Abend Autofahren«, sagt Kyle. »Wir nehmen das Mädchen mit und bringen sie zu Doktor Hendricks.«
Der Priester lacht leise. »Ach ja?«
»Scheiße«, grunzt Brody und versucht sich aufzusetzen. »Und was ist mit mir?«
Er wird ignoriert. Wir werden ihn nicht einfach aufgeben, dessen bin ich mir sicher. Nicht, wenn es eine Möglichkeit gibt, ihn zu retten. Aber Kyle bestimmt jetzt, was gemacht wird, und deshalb werden wir ihm fürs Erste folgen. Meiner Ansicht nach könnten Kyles Gründe sein, dass das Mädchen in schlechterer Verfassung zu sein scheint und daher zuerst drankommt – obwohl er sie genauso gut beide mitnehmen könnte. Vielleicht werde ich das vorschlagen, wenn er die Waffe senkt.
»Ja«, antwortet er Hill. Der Revolver zittert in seiner Hand. Ich bin noch nicht so weit, dass ich meine vorige Theorie anzweifle, ob mein Sohn jemals wieder auf einen Menschen schießen wird, doch so überzeugt davon bin ich nicht mehr. Aber verdammt stolz bin ich.
»Kyle, ich will dich mal was fragen. Was genau denkst du, würde es bezwecken, mich zu erschießen? Glaubst du, dass ich einfach umfallen werde? Wie diese ganzen anderen Schwächlinge? Falls du’s noch nicht bemerkt hast: Alles hier gehört mir. Alle stehen mir Rede und Antwort, genau, wie ich den höheren Mächten antworte, wenn die Arbeit erledigt ist. Wenn sie gebüßt haben. Und du, mein Junge, hast viel wiedergutzumachen.«
»Und wann ist alles gebüßt? Wie viele Leichen zählen in Ihren Augen als Buße? Zehn, zwanzig, einhundert?«
»Das wirst du wissen, wenn es vorbei ist.«
»Klar«, sagt Kyle zu ihm. »Wenn Sie genug haben vielleicht, Sie krankes Arschloch.«
Der Reverend seufzt. »Hast du vor herauszufinden, wie viel Leid du dir aufbürden kannst? Drück nur ab und wir werden sehen, was …«
Ohne Vorwarnung tut Kyle, was er ihm gesagt hat. Der Reverend steht noch einen Moment lang da, dann bricht er zusammen. Das Echo des Schusses klingt fast so wütend wie der Sturm, und das Geräusch von tropfendem Blut könnte der Regen sein, der an die Fenster klopft. Was einstmals der Kopf von Reverend Hill war, ist jetzt neben der blutbespritzen Flo quer über die Wand verteilt. Sie scheint gar nicht außer sich zu sein, sondern sich nur etwas gestört zu fühlen. Ihre Augen, weiße Punkte in einem verschmierten Gesicht, weiten sich. »Das kann doch nicht so einfach sein.«
»Egal«, sage ich zu ihr. »Er liegt flach und das war’s.«
Und trotzdem bewegt sich niemand. Stattdessen beobachten wir Hills Leiche vorsichtig, warten auf ein Zeichen der Macht, die uns die ganzen Jahre gefesselt hielt. Wir erwarten fast, dass das über die Wand gespritzte Gehirn wieder in den zerborstenen Schädel des Mannes zurückfliegt, das Blut in das Loch, das Kyles Kugel aufgerissen hat, zurückfließt und die Wunde heilt. Wir warten darauf, dass der Reverend aufersteht und mit vor mörderischer Wut verzerrtem Gesicht den von uns auswählt, den er als ersten zerstört. Wir warten. Wir schauen ihn an.
Aber was geschieht, ist viel unerwarteter.
Nichts passiert.
Der allmächtige Reverend liegt ohne den Großteil seines Kopfes einfach da und ist so tot wie Hundescheiße.
»In all meinen Jahren hab ich noch nie so viel Blut gesehen«, sagt Gracie und es klingt wie ein Kommentar, auf den Tränen folgen sollten. Aber bei Gracie gehe ich jede Wette ein, dass sie sich bereits um das Saubermachen Sorgen macht. »Er war wohl doch bloß ein Mann.«
»Ich will nach Hause«, sagt das Mädchen auf der Theke, und das weckt uns aus unserer gebannten Erwartungshaltung.
»Wir bringen dich hin, Schatz.« Flos Hände zittern, als sie sich mit dem Ärmel das Blut des Priesters vom Gesicht wischt.
»Wir packen das, Baby«, beruhigt Brody sie, obwohl er zu starke Schmerzen hat, um glaubhaft zu klingen. »Gleich sind wir hier raus, und dann gibt’s nur noch dich, mich und Dean.«
Kyle steht noch immer mit der erhobenen Waffe da, drückt sie noch immer an das Gespenst von Hills Schläfe, und ich lege eine Hand auf seinen Unterarm, dränge ihn, sie wegzustecken, ehe sie noch einmal losgeht