Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Mosser-Schuocker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902862846
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Familie lebt in Gmünd, der Vater hat eine gute Position. »Der Vater ist 1910 nach Gmünd gekommen und war beim E-Werk, bei einem Grafen, als Betriebsleiter angestellt. Er hat auch auf eigene Rechnung Installationen, Reparaturen und solche Sachen gemacht. Die Leute haben Bügeleisen zum Reparieren gebracht oder sie sind gekommen, um Glühbirnen, Sicherungen und solche Dinge zu kaufen.«

      Seine wichtige Aufgabe im E-Werk bewahrt den Vater letztlich vor dem Krieg. »Bald nach dem Abschied in Judenburg hat der Vater nach Hause kommen können, weil der Graf irgendjemanden kannte, der bewerkstelligt hat, dass mein Vater unabkömmlich ist, weil der Graf ihn als Betriebsleiter braucht. Da hat es eben geheißen, der Graf muss seinen Betriebsleiter nicht im Krieg lassen.«

      Der Vater ist stolz darauf, im festen Gefüge der Monarchie an wichtiger Stelle zu dienen. »Meine Eltern waren kaisertreu. Sie haben mich damals Zita gerufen, an das kann ich mich noch sehr gut erinnern. Meine Mutter hat gesagt, Felizitas ist eigentlich ein selbstständiger Name, aber man kann den Namen auch so abkürzen. Dann war ich auf einmal allgemein die Zita. Wie die Kaiserin!«

      Die Mutter von Felizitas Wester hat sogar die Beerdigung der ermordeten Kaiserin Sisi miterlebt. Als junge Frau wohnte sie zwei Jahre in Wien, um schneidern zu lernen. Später erzählt sie ihrer Tochter oft von ihren Erlebnissen in der Hauptstadt: »Sie war, glaube ich, 16 Jahre alt, wie sie nach Wien gekommen ist. Sie hat davon erzählt, wie die Kaiserin gestorben ist: Dass sie ermordet worden ist. Und dass deshalb in Wien eine große, schöne Feier war. Ich glaube, in die Kapuzinergruft ist sie gekommen. Da war eine große Prozession und die Leute haben sich alle irgendwie passend angezogen und sie hat ein schwarz-weißes Bluserl angehabt. Also sie hat sich auch trauergerecht angezogen, mit einem schwarz-weißen Bluserl ist sie zur Bestattung gekommen.« Es sind solche Kleinigkeiten, die ein Ereignis in der Erinnerung fest verankern.

      1916

      Marko Feingold,

       geboren 1913, Wien

      Vorsichtig dreht sich der Bub im Bett um. Marko will seinen Bruder, der neben ihm schläft, nicht wecken. Der Dreijährige zieht sich die Decke bis zur Nasenspitze. Es ist kalt in der Wohnung, wie jeden Morgen. Er sieht aus dem Fenster: Noch ist es stockdunkel. Trotz der frühen Stunde sind Marko und seine beiden Brüder alleine zu Hause. Die Mutter ist einkaufen gegangen, nur das jüngste Geschwisterchen hat sie mitgenommen. Je früher man sich in die Schlange vor dem Lebensmittelgeschäft einreiht, desto größer ist die Chance, etwas zu ergattern. Hoffentlich bekommt die Mutter überhaupt etwas Essbares. Manchmal, das weiß Marko schon, kommt die Mutter mit einer leeren Tasche nach Hause. Plötzlich spürt der kleine Bub, wie hungrig er ist. Er steht möglichst leise auf und geht in die Küche. Auf der Kredenz hat die Mutter das Frühstück für die Buben hergerichtet: Industriezucker und Kukuruzbrot.

      Der Vater im Krieg, die Mutter auf der Suche nach Lebensmitteln, die Kinder alleine zu Hause. Diese Situation ist für den 100-jährigen Marko Feingold seine erste »Kriegserinnerung«:

      »Ich kann mich erinnern an das Jahr 1916. Der Krieg tobt, mein Vater ist im Krieg. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, dass der Ernährer nicht da war. Sie hatte für drei Kinder und ein Wickelkind zu sorgen. Die Lebensmittelkarten haben einfach nicht gereicht. Trotzdem musste sich die Mutter, wie alle anderen Hausfrauen, jeden Tag um Lebensmittel anstellen. Wenn man mit einem Baby ganz zeitlich, um 4 oder 5 Uhr früh, zum Greißler gegangen ist, wurde man früher bedient. Falls wir früher aufwachen sollten, hat sie uns drei Häuferl Industriezucker – das war dieser nasse, rote Zucker – und drei Häuferl Brot zurückgelassen. Wenn ich sage drei Häuferl Brot, lüge ich nicht, das war Kukuruzbrot. Das Brot ist zerfallen, hat nicht gehalten. Das ist meine Erinnerung an mein drittes Lebensjahr.«

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      Ab 1915 werden Lebensmittelkarten ausgegeben, zunächst für Brot und Mehl, ab 1916 für Zucker, Milch, Kaffee, Fett und Kartoffeln. Am Ende des Krieges werden den Bürgern 830 Kalorien zugestanden. Zu wenig zum Leben. Die öffentliche, unentgeltliche Ausspeisung durch Verabreichung einer warmen Mahlzeit wird für viele Familien zu einer Überlebensfrage. Im Jahr 1914 werden täglich 10 500 Mahlzeiten verteilt. Bei der Aktion »Frühstück für Schulkinder«, die ab 1916 besteht, wird – ohne Lebensmittelmarken – ein Stück Brot pro Kind ausgegeben.

      Lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften prägen das Wiener Stadtbild. Nicht nur Frauen und Alte, auch Kinder warten die ganze Nacht, um in der Früh ihre Ration zu erhalten. Der Chefredakteur der AZ am Abend schreibt an Ministerpräsident Stürgkh: »Als erster Beamter des Reiches vermeinen Sie gewiss ein Patriot zu sein. Nur von diesem Standpunkt aus will ich Ihnen einen Satz sagen: Der ist ein schlechter Patriot, der die Kinder der kämpfenden und auf dem Schlachtfeld fallenden Väter Gefahren für ihre Gesundheit und für ihr Leben aussetzen lässt.«10

      Die Erinnerung an das Anstellen seiner Mutter ist für Marko Feingold lebenslang mit einem traurigen Ereignis verbunden: »Nun muss ich ehrlich gestehen, mein Bruder ist in diesem Jahr, 1916, verstorben. Ich habe immer gesagt, er wurde für uns drei geopfert. Denn ihn hat die Mutter immer mitgenommen, um schneller dranzukommen, und er hat zweimal hintereinander Lungenentzündung bekommen. Beim zweiten Mal war er nicht mehr zu retten, obwohl wir alles für ihn getan haben. Mein kleiner Bruder ist 1916 in Wien gestorben.«

      2. KAPITEL

       »Das eigentliche Österreich gibt es nicht mehr.«

       Heinrich Treichl, Fritz Molden und Otto von Habsburg

       über das Ende der Monarchie und die Anfänge der Republik Deutschösterreich

      1916

      Heinrich Treichl,

       geboren 1913, Wien

      Der kleine Bub zerrt an der Hand seiner Kinderfrau. Mit seinen knapp drei Jahren weiß Heinrich schon, dass nach dem täglichen Spaziergang durch den Burggarten und am Ring eine Jause auf ihn und seinen kleinen Bruder Wolfgang wartet. Er möchte nach Hause, in die nahe Elisabethstraße. Doch das Kindermädchen hält ihn zurück, liebevoll, aber bestimmt. »Schau, dort ist das Burgtor. Wenn wir Glück haben, fährt der Kaiser gleich durch!« Tatsächlich, wenige Minuten später rollt der Hofwagen über den Heldenplatz. Die Wiener grüßen ihren Kaiser und der alte Herr winkt zurück. Im Jahr 1916 sind Autos in Wien keine Seltenheit mehr. In der Hauptstadt der Habsburgermonarchie sind Tausende Kraftfahrzeuge zugelassen. Doch der 86-jährige Monarch fährt fast täglich mit einer vierspännigen Kutsche vom Schloss Schönbrunn zu seinem Arbeitsplatz in die Hofburg. Für Franz Joseph ist die Zeit stehen geblieben. Auch im zweiten Jahr des Weltkrieges hält der Kaiser an seiner jahrzehntelang geübten Routine fest, als ob das Zerbrechen der »alten Welt« durch immerwährende Beständigkeit in den kleinen Ritualen des Alltags aufgehalten werden könnte. Doch seit der Kriegserklärung zeigt sich der alte Kaiser seinen Untertanen kaum noch. Auch die Kutschenfahrt von Schönbrunn in die Hofburg fällt meist aus. Heinrich und Wolfgang haben Glück an diesem Tag.

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      97 Jahre später erinnert sich Heinrich Treichl an seine flüchtige Begegnung mit dem alten Kaiser: »Ich sehe ihn vor mir, ich sehe den Wagen. Wir hatten eine Kinderfrau, die war sehr kaisertreu und hat geschaut, dass wir den Hofwagen sehen. Wir warteten einen Moment, dann haben wir den Kaiser gesehen. Wir haben uns eingebildet, dass er gewunken hat.« Ob Heinrich Treichl tatsächlich aus den Tiefen der Erinnerung dieses Bild auferstehen lässt, oder ob er spätere Erzählungen in seine Wirklichkeit projiziert? Tatsächlich fuhr Kaiser Franz Joseph Tag für Tag vom Schloss Schönbrunn per Kutsche in die Hofburg. Doch während der Kriegsjahre erscheint dem alten Herrn die tägliche Kutschenpartie zu mühsam. Er bleibt meist in Schönbrunn, abgeschirmt von der Stadt, abgeschirmt von den Veränderungen, die der Krieg der einst lebenslustigen Metropole aufzwingt, abgeschirmt auch von den Kolonnen der Kriegsversehrten, die bald das Straßenbild prägen. Der alte Kaiser entzieht sich