Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Mosser-Schuocker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902862846
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vom 18. Oktober 1918, sind die meisten Menschen zu zermürbt von Krieg und Elend, um sich große Gefühlsaufwallungen leisten zu können: So heißt es, »dass die untersten Schichten nur den Ernährungsverhältnissen Interesse entgegenbringen, politischen Vorgängen gegenüber jedoch ziemlich abgestumpft sind.« Was kümmert die Frau, deren Mann gefallen ist, den Vater, der seinen Kindern kein Brot geben kann, den Soldaten, der zum Krüppel geschossen wurde, die Regierungsform?

      Erst am 11. November 1918 verzichtet Kaiser Karl auf »jeden Anteil an den Staatsgeschäften«. Er erkenne im Voraus die Entscheidung, die Deutschösterreich über seine Staatsform trifft, an, dankt aber, auch unter dem Einfluss seiner Gattin Zita, nicht formal ab. Die jahrhundertelange Herrschaft des Hauses Habsburg ist beendet. In Schönbrunn gehen, im wörtlichen Sinn, die Lichter aus. Der nunmehrige Ex-Kaiser übersiedelt mit seiner jungen Familie in das Jagdschloss Eckartsau.

      In einem von ORF-Journalist Gerhard Jelinek geführten Interview schildert Otto von Habsburg seine Erinnerungen an jenen schicksalhaften November 1918. Die Abreise vom dunklen Schloss Schönbrunn, das plötzliche Fehlen der kaiserlichen Garden, die durch junge Kadetten aus Wiener Neustadt, fast noch Kinder, ersetzt wurden, erlebt der junge Otto als Zeit familiärer Gemeinsamkeit. Es ist für den Erstgeborenen eine neue Erfahrung. Vater und Mutter hat der Vierjährige während der Kriegsjahre kaum gesehen. »Vater und Mutter waren während der Kriegsjahre ununterbrochen unterwegs, weil das ja eine Aufgabe von beiden war. Die haben das natürlich ganz gewissenhaft erfüllt, gänzlich, soweit es irgendwie möglich war. Meine Mutter hat sich um die karitativen Sachen angenommen, die Fragen der Verwundeten, und mein Vater war ständig unterwegs. Also ein Familienleben, wo alle zusammen sind, das hat es während des Krieges überhaupt nicht gegeben, vielleicht turnusweise in Reichenau, das war ja nicht so weit weg von Baden, wo wir während des Krieges gewohnt haben. Denn in Baden bei Wien war ja damals die Kaiservilla, weil mein Vater in der Nähe des Generalstabs und des Oberkommandos der Armee sein wollte. Ich erinnere mich noch an die Distanzen, die ich damals schon mit dem Auto gefahren bin, von Baden nach Reichenau. Unser Aufenthalt im Jagdschloss Eckartsau war natürlich überschattet durch den Winter und durch den verlorenen Krieg. Ich habe schon mitbekommen, dass wir alle sehr besorgt waren, weil mein Vater eine ganze Weile krank war. Er hatte die Grippe bekommen und war sehr depressiv und schwach. Ich erinnere mich auch noch an die Spaziergänge in der winterlichen Au. Die Stimmung in der Familie war damals natürlich sehr bedrückt, aber meine Mutter, Kaiserin Zita, hat sich bemüht, das für uns Kinder nicht so merkbar zu machen. Wir waren viel draußen, draußen im Wald. Das war auch wunderbar. Die Donauauen sind ja etwas Wunderschönes, was dort alles an Tieren zu sehen war. Wir sind mit den Förstern durch die Au gegangen. Es waren meine ersten Lehren in der ganzen Kenntnis der Tiere. Wir haben Krammetsvögel gesehen, wem ist das heute schon ein Begriff, niemand denkt mehr dran. Krammetsvögel und natürlich die Kormorane. In Eckartsau hatte ich nie das Gefühl, ein Gefangener zu sein, in Eckartsau bestimmt nicht. Eckartsau war doch noch in Österreich, da hat man die Leute gekannt. Gut, es hat schon gelegentlich Schießereien gegeben, in den Wäldern, aber das hat nicht weiter viel ausgemacht.«

      Otto von Habsburg gibt die Eindrücke eines vierjährigen Buben wieder, der das (Winter-)Leben in der Au-Landschaft genießt. Politisch waren die Monate im kaiserlichen Jagdschloss keineswegs ein Kuraufenthalt für die kaiserliche Familie und ihre letzten Getreuen. Kaiser Karl hatte sich wochenlang geweigert, Schloss Schönbrunn zu verlassen. Er blieb in den Tagen des Umbruchs für die neuen republikanischen Autoritäten ein unangenehmer Stachel im Fleisch. Wie kann man in einer Republik regieren und eine neue Ordnung schaffen, die sich ja auf die alten Beamten und Offiziere stützen muss, wenn der (junge) Kaiser noch immer im Amt ist und sich weigert, auf seine Funktion zu verzichten? So wird tagelang mit Kaiser Karl um die Formulierung eines Verzichts auf die Kaiserkrone verhandelt. Es bleibt bei einem Verzicht auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte. In der formalen Denkweise des Hauses Habsburg hat der letzte Kaiser demnach nie auf die Krone verzichtet. Auch in Eckartsau verhandelt Karl. Noch klammert er sich an die Hoffnung, wenigstens gekrönter König von Ungarn zu bleiben. Doch Karl muss in seinem ersten »Exil« auch für Ungarn abdanken. Die Krone selbst, die ihm nach dynastischer Lesart als Gnade Gottes verliehen wurde, gibt der Habsburger nie auf. In Ungarn wird er zweimal versuchen, die Regierungsgewalt zurückzuerringen. Beide Restaurationsversuche scheitern mehr oder weniger spektakulär. Die ehemaligen slawischen Kronländer, die Tschechoslowakei und der neue südslawische Staat, lassen eine Rückkehr der Habsburger auf den ungarischen Thron nicht zu. Es wird offen mit einer militärischen Intervention gedroht. Daran haben die Siegermächte wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkrieges überhaupt kein Interesse. Karl und seine Familie werden zum lästigen Ärgernis. Eckartsau liegt nur wenige Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt, auch Wien ist in einer einstündigen Zugfahrt zu erreichen. Im Jänner bemüht sich der sozialdemokratische Staatskanzler Karl Renner ins Jagdschloss, um den Kaiser zur Abreise zu überreden. Doch Karl empfängt das neue Staatsoberhaupt nicht. Mit sanftem Druck und einer Blockade der Lebensmittelversorgung des Schlosses versucht das republikanische Wien, den Druck auf den ehemaligen Herrscher zu erhöhen.

      Darüber hinaus ist die Sicherheitslage prekär. Kaiserin Zita behauptet zwar in ihren Lebenserinnerungen, die kaiserliche Familie hätte dreißig Bewaffnete zur Verteidigung des Schlosses aufbieten können, aber in den Nachkriegswirren streifen immer wieder marodierende Banden durch die Wälder. Für die alliierten Besatzer und für die deutschösterreichische Regierung wird Karl zum Problem. Schließlich ergreifen die Briten die Initiative. Der englische Generalstabsoffizier Oberstleutnant Strutt begleitet, beschützt und bewacht den österreichischen Kaiser als »Ehrenkavalier« seiner königlichen Regierung in London. Strutt organisiert den alten Hofzug unter dem Vorwand, Entente-Offiziere würden ihn benötigen, und lässt ihn in den Bahnhof Kopfstetten, kaum drei Kilometer von Eckartsau entfernt, bringen. Unter britischer Bedeckung – aber natürlich mit inoffiziellem Wissen der österreichischen Regierung – bringt Strutt die kaiserliche Familie außer Landes. Am 23. März besteigen Karl, seine Frau Zita und die allerletzten Getreuen den Hofzug, der unter Umfahrung Wiens gen Westen dampft. Am Nachmittag des 24. März, um 15 Uhr und 48 Minuten, hält der Hofzug im Grenzbahnhof Buchs. Der Schweizer Oberst Bridler hat den Bahnhof militärisch absperren lassen. Zwei Brüder der Kaiserin, die Prinzen Felix und René von Bourbon-Parma, die aus Wartegg eingetroffen sind, dürfen die Familie im Schweizer Exil begrüßen. Auch am Bahnsteig und im Zug wird das Hofzeremoniell gewahrt. Ehe Oberst Bridler den Kaiser auf neutralem Boden empfangen kann, muss er sich beim mitgereisten Graf Ledóchowski anmelden, der wiederum zu Kaiser Karl ins Coupé geht und ihm die Aufwartung eines Schweizer Obersten verkündet. Dann erst darf der republikanische Schweizer mit dem exilierten Monarchen und seiner Gattin sprechen. »Der Kaiser und die Kaiserin waren sichtlich bewegt und zeigten sich erkenntlich für das Entgegenkommen der Schweiz in dieser für sie so schwierigen Zeit«, erinnert sich Oberst Bridler später in seinem Bericht an den eidgenössischen Bundesrat.

      Für den jungen Otto bleibt die Ausreise aus Österreich ein Abenteuer: »Die Abreise in die Schweiz war eigentlich eine Blitzaktion, man ist da mit dem Zug gefahren und dann ist man schon am anderen Ende von Österreich gewesen. Diese Reise durch Österreich ist mir als Kind schon bewusst gewesen. Natürlich habe ich nicht gedacht, das ist jetzt ein historischer Moment. Mich haben die Berge beeindruckt, ich habe für mich neue Landschaften Österreichs vom Zug aus gesehen. Weg von Eckartsau, gut, das hat man verstanden, das war ein trauriger Moment, auf Wiedersehen, aber man hat auch ›Auf Wiedersehen‹ gesagt. Man war überzeugt, man wird die Heimat wiedersehen. Es war noch nichts Endgültiges. Dieses Gefühl ist erst später gekommen, nachdem man über der Grenze war. Ich habe gewusst, dass es für die Eltern ein schwerer, ein ganz schwerer Moment ist, aber für uns selbst, man hat sich gesagt, das wird schon wiederkommen. Ja, und außerdem ist man überzeugt, es kommt wieder, was nicht so falsch war, denn im Leben kommen die Sachen oftmals wieder – wenn man nicht aufgibt.«

      Stefan Zweig beschreibt die Fahrt des letzten österreichischen Kaisers unter britischer Begleitung, die Bewachung und Schutz zugleich war, in seinen 1942 erschienenen Lebenserinnerungen Die Welt von Gestern: Der Schriftsteller kehrt aus der friedvollen Schweiz im Frühjahr 1919 ins vom Krieg schwer gezeichnete »Deutschösterreich« zurück. Am Bahnhof im vorarlbergischen Feldkirch wird Stefan Zweig Zeuge eines historischen Moments: »Schon beim Aussteigen hatte ich eine merkwürdige Unruhe bei den Grenzbeamten und