Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Mosser-Schuocker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902862846
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bestätigte dann leider das Gerücht … Nicht viel anders als unter den Bauern geht es unter den Sommergästen zu. Auch sie erhalten die Einberufung, auch sie reisen ab, von heute auf morgen sind sie verschwunden, und die Frau, die Kinder, die Eltern wissen in vielen Fällen ebenso wenig, wohin. In dieser Ausnahmslosigkeit liegt zugleich auch ein gewisser Trost, und wenn es etwas ist, was das Opfer der Wehrpflicht erträglicher machen kann, so ist es ihre Allgemeinheit.«

      Stefan Zweig kehrt aus Belgien nach Österreich zurück und erkennt seine Heimat kaum wieder: »In jeder Station klebten die Anschläge, welche die allgemeine Mobilisation angekündigt hatten. Die Züge füllten sich mit frisch eingerückten Rekruten, Fahnen wehten. Musik dröhnte, in Wien fand ich die ganze Stadt in einem Taumel. Der erste Schreck über den Krieg […] war umgeschlagen in einen plötzlichen Enthusiasmus. […] Wie nie fühlten Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: dass sie zusammengehörten […] Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit.«

      Es rücken nicht nur die Männer ein, die von einem Tag auf den nächsten verschwinden, nein, auch die Pferde und die Fuhrwerke ziehen in den Krieg. Viele erinnern sich an die Stille, an das Fehlen des Hufgeklappers. Doch es muss weitergehen: Die Felder müssen bestellt, die Ernte eingebracht, die Kinder versorgt werden. Berta Stimpfl erzählt: »Die Mama ist tüchtig gewesen und die Schwestern, die erste ist 1901 geboren, die andere 1902 und der Bub 1903, haben halt schon fest anpacken müssen. Wir haben viel Arbeit gehabt, aber dafür haben wir allerweil zu essen gehabt. Gut und genug, zum Glück. Gut, was heißt gut, heute haben sie es schon viel besser. Aber man ist zufrieden gewesen damals.«

      Die kleine Berta wird in eine bäuerliche Welt geboren, in der Leben und Sterben als unabänderlicher Kreislauf hingenommen werden. Die schwere Krankheit ihrer kleinen Tochter ist damals für Bertas Mutter kein Grund, das Feld unbestellt zu lassen. »Ich bin 1911 geboren, da ist ein ganz ein heißer Sommer gewesen und die ›Poppele‹7 sind viel gestorben, weil sie Krankheiten, Brechdurchfall, gekriegt haben. Wegen einem ›Poppele‹ ist auch niemand zu einem Doktor gegangen. Da sind viele gestorben und ich bin auch dem Sterben nahe gewesen. Da haben sie die Mutter gerufen, weil die Mutter ist auf dem Feld gewesen, sie soll schnell heimkommen, weil das Kind stirbt. Da haben sie ein Kerzerl angezunden, weil ein Kerzerl wird angezunden, wenn jemand stirbt. Aber das Kind ist nicht gestorben, ist heuer 102 Jahre alt geworden! Ich werde mich schon gewehrt haben, vorm Sterben.«

      Die Familie hört lange Zeit nichts vom Vater. »Ich kann mich nicht erinnern, dass die Mutter Briefe bekommen hätte. Wahrscheinlich hatte er keine Möglichkeit zu schreiben. Er war ja später dann an der Dolomitenfront, hoch oben in Schnee und Eis.«

      Trotz seiner Mitgliedschaft im Dreibund hatte sich Italien 1914 geweigert, an der Seite Österreichs und Deutschlands in den Krieg einzutreten. Die Begründung: Es handle sich um einen Defensivpakt, Österreich habe den Krieg aber begonnen. Noch verhielt man sich neutral, während die Entente Italien bereits mit Versprechungen umwarb. Die Westmächte lockten Italien mit Gebietsgewinnen in Südtirol und Istrien, einer alten Forderung der italienischen »Irredenta«8. Am 23. Mai 1915 tritt Italien aufseiten der Entente gegen Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg ein. Wieder wendet sich der greise Kaiser an »seine Völker«: »Der König von Italien hat mir den Krieg erklärt. Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt, ist von dem Königreiche Italien an seinen beiden Verbündeten begangen worden.« Eine Welle der Empörung geht durch die Monarchie. »Wut und Ekel über Italien bis zu Tränen«, schreibt Arthur Schnitzler 1915 in sein Tagebuch.9 Die Propaganda gegen »die Katzlmacher« tut ihr Bestes, den Hass zu schüren. Die Forderung nach der Brennergrenze ist, nur drei Jahre bevor sie Realität wird, unvorstellbar.

      Unter dem Titel »Andreas Hofer, grüß Gott« schreibt Albert von Trentini: »Die letzte deutsche Stadt, Bozen, unter welschem Joch – das ist eine Utopie, über deren Nonsens kein Wort zu verlieren ist. […] Denn, haben sie [die Italiener – Anm.] unsere Geschichte nicht gelesen? Und wenn sie sie lasen, wissen sie nicht, wie bisher jede Fremdherrschaft mit eiserner Unerbittlichkeit abgeschüttelt worden ist? Und erraten sie nicht, dass wir, in Blut und Elend und Fetzen darniedergerissen, und alles verloren und kein Mann mehr im Land, der eine Kugelbüchse tragen könnt, ganz einfach warten würden, bis die Neugeborenen wieder so flaumig sind, um ›Gott erhalte‹ beim Scheibenschießen zu singen … und dann?« Der Hass des Schreibers bezieht sogar noch Ungeborene in seine Kampfvisionen mit ein. Auch der Herrgott wird selbstverständlich zum Bundesgenossen gemacht: »In höchster Not hast schnöd uns du verraten, Drum beten wir, Gott möge dich zerschmettern«, dichtet Arthur von Wallpach 1916.

      Die ehemaligen Bündnispartner stehen sich am Isonzo und in den Dolomiten erbittert gegenüber. Italien verfügt bei den ersten Isonzoschlachten über rund 1 Million Soldaten und damit etwa die fünffache Übermacht. Der Isonzo wird zu einem der Hauptkriegsschauplätze des Ringens zwischen Österreich und Italien. Schwerste Kämpfe finden aber auch im Hochgebirge statt. Heiß umkämpft wird beispielsweise der Col di Lana. Ganze Berge werden ausgehöhlt, künstliche Stein- und Schneelawinen abgesprengt. Die Österreicher, vor allem die Tiroler Standschützen, verteidigen sich geschickt und verbissen. Die Moral der Truppe ist gut, es geht um mehr als Kaiser und Vaterland – es geht um die Heimat. Es geht um Tirol.

      Einmal kommt der Vater mit einer Auszeichnung von der Front zurück, daran erinnert sich die 102-jährige Berta Stimpfl besonders gut. »Das habe ich verstanden, schon mit sechs Jahren: Der Vater hat den Orden aufgesteckt gehabt, da haben wir eine Freude gehabt. Er ist Zugführer gewesen, da wird er schon irgendetwas gut gemacht haben.«

      Der Vater spricht nicht viel vom Krieg, wenn er, selten genug, Heimaturlaub hat. Das wenige, das der Soldat erzählt, ist seiner Tochter bis heute in Erinnerung: »Ganz hart haben sie es gehabt. Einmal hat ein Kamerad meines Vaters, ein Vorarlberger, gesagt: ›Und wenn es Steine schneit, müssen wir doch hinaus.‹ Das hat er uns Kindern erzählt. Vom Kämpfen hat er nicht viel gesprochen. Ich glaube, die Soldaten auf diesem hohen Berg hatten immer Angst. Aber trotz der Angst wollten sie kämpfen. Aber kämpfen ist nicht fein. Sie glaubten immer, sie werden gewinnen, bis zuletzt.« Die alte Dame hält kurz inne und wiegt bedächtig den Kopf. »Aber leider, leider nicht«, sagt sie schließlich mit leiser Stimme, »aber zum Glück ist der Vater gut wiedergekommen. Zum Glück.«

      1915

      Felizitas Wester,

       geboren 1912, Kärnten

      Felizitas ist den Tränen nahe. Menschenmassen schieben sich über den Bahnsteig. Das kleine Mädchen kann sich in dem Gewühl kaum bewegen. Die Mutter hält sie eisern an der Hand und zieht sie hinter sich her. Doch sie dreht sich nicht zu der Dreijährigen um, fragt nicht, wie es ihr geht. Seit gestern scheint die Mutter verstummt zu sein. Das Schweigen macht Felizitas Angst. Frauen weinen, Kinder schreien. Die meisten Männer tragen Uniform, den feldgrauen Waffenrock. Auch der Vater ist jetzt Soldat. Gestern kam die Nachricht: Der Vater wird an die Front verlegt. Felizitas, ihr Bruder und ihre Mutter reisen zu ihm, um sich zu verabschieden. Die kleine Familie drängt sich weiter durch die Menge. Endlich kann das Mädchen die Lokomotive erkennen, ein riesiges schwarzes Ungetüm. Es ist die erste Zugfahrt der Dreijährigen, doch sie kann sich nicht darüber freuen. Morgen muss der Vater in den Krieg.

      »1915 hat der Vater einrücken müssen, da hätte er an die Front kommen sollen«, erzählt die Klagenfurterin. »Die Mutter hat gesagt, jetzt fahren wir nach Judenburg, wir müssen uns vom Vater verabschieden. Die Mutter war sehr traurig. Sie hat zu einer Bekannten gesagt, beide Kinder möchte sie hergeben, wenn nur ihr Mann wiederkommt. Die Frau hat geantwortet: ›Versündigen Sie sich nicht. Einen Mann zu verlieren ist gar nichts gegen ein Kind zu verlieren.‹ Diese Frau hatte beides schon erlebt. Wir sind also nach Judenburg gefahren. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, war ein junges Mädchen, 16 oder 17 Jahre alt. Sie ist auch mitgefahren. Ich habe mit der Tante in einem Bett geschlafen und bin in der Nacht aus dem Bett gefallen. Daran kann ich mich auch noch gut erinnern.«