Ihre Geschichte und ihre Geschichten sind Mosaiksteine, die zusammengesetzt das lebendige Bild einer vergangenen Epoche ergeben. Eingebettet ist das Erlebte und subjektiv Wiedergegebene in, so hoffe ich, objektive Anmerkungen zum jeweiligen Zeitabschnitt. Jeder Abschnitt des vorliegenden Buches beginnt mit einer erzählenden Darstellung, deren Informationen auf Gesprächsprotokollen beruhen. In kleineren Details können diese Erzählungen von den tatsächlichen Begebenheiten abweichen. Abweichende Ortsbezeichnungen in Zusammenhang mit einzelnen Zeitzeugen erklären sich aus den verschiedenen Schauplätzen der erzählenden Passagen.
Keinesfalls handelt es sich bei diesem Buch um eine umfassende zeitgeschichtliche Abhandlung über die Zeit vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum »Anschluss«. Die Auswahl der aufgegriffenen Themen ist vielmehr den historischen Eckpunkten geschuldet, die meine Gesprächspartner aufgeworfen haben. Man kann also zu Recht einwenden, dass dieses oder jenes Ereignis, diese oder jene Perspektive fehlt. Eine allumfassende Darstellung von Ereignissen, die viele Jahre – im längsten Fall exakt hundert Jahre – zurückliegen, anhand von Zeitzeugeninterviews ist weder beabsichtigt noch möglich.
Die Geschichten, Gespräche und Gedanken dieses Buches sollen eine Epoche lebendig werden lassen, die kaum einer unserer Zeitgenossen erlebt hat: ein Streifzug durch rund 20 Jahre Zeitgeschehen, der bewusst macht, wie gut es sich im heutigen Österreich lebt.
Wien, im März 2014
Birgit Mosser-Schuöcker
1. KAPITEL
»Wir haben schon verstanden, was Krieg ist.«
Frieda Jeszenkowitsch, Berta Stimpfl, Felizitas Wester und Marko Feingold
über den Ausbruch und das Leid des Ersten Weltkrieges
1914
Frieda Jeszenkowitsch,
geboren 1909, Burgenland
»Mama«, ruft die Fünfjährige, »Mama!« Keine Reaktion. Das Mädchen lauscht angestrengt. Es ist still in der großen Wohnung. Wo ist die Mutter? Frieda nimmt ihre Lieblingspuppe, die sie gerade angezogen hat, und betritt den Korridor. Sie fürchtet sich ein wenig vor dem langen, düsteren Gang, aber sie muss die Mutter suchen. Aus dem Wohnzimmer dringt ein seltsames Geräusch, ein Schluchzen. Die hohe, weiße Türe ist geschlossen. Weint die Mutter? Ist etwas Schlimmes passiert? Frieda hat Angst. Das Schluchzen wird lauter, verzweifelter. Das kleine Mädchen muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Klinke zu erreichen. Dann stößt sie die Türe auf. Die Mutter sitzt beim Speisezimmertisch, vor sich die aufgeschlagene Zeitung.
»Meine Mama hat geweint und wir Kinder haben nicht verstanden, warum.« Die alte Dame kann sich noch gut an das beklemmende Gefühl von damals erinnern. Heute weiß die Rusterin, warum ihre Mutter verzweifelt war: »Sie hat geweint, weil sie die Mobilmachung in der Zeitung gelesen hat und Angst hatte vor dem, was kommt.«
»Da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen, und man wirft auf einen mit Bomben. Das ist empörend!«, fährt der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand den Bürgermeister von Sarajevo an. Kurz zuvor war eine Bombe in Richtung des Autos der Besucher geschleudert worden, Franz Ferdinand und seine Gattin blieben unverletzt. Doch das Ehepaar kann seinem Schicksal nicht entrinnen. Der Fahrer ihrer Limousine wählt die falsche Route und fährt den Thronfolger und die Herzogin von Hohenberg direkt zu ihrem Mörder. Es ist 11 Uhr vormittags, als der Schüler Gavrilo Princip auf den Mann schießt, den er für einen Tyrannen hält. Die erste Kugel trifft dessen neben ihm sitzende Frau in den Unterleib. »Sopherl, Sopherl […] stirb mir nicht! Bleibe für meine Kinder!« Dann wird auch Franz Ferdinand getroffen. Trotz hilflosen Rettungsversuchen verbluten die dreifachen Eltern.
Der 19-jährige Gavrilo Princip glaubt, für seine Heimat zu töten. »Ich bin ein jugoslawischer Nationalist mit der Vereinigung aller Jugoslawen als Ziel, mir ist es egal, in welcher Staatsform, jedoch muss er [der jugoslawische Staat; Anm.] von Österreich befreit werden«1, bekennt er bei seinem Prozess. Den Serben ereilt nicht das zu erwartende Schicksal. Aufgrund seiner Jugend wird er nicht hingerichtet. Da er zur Tatzeit noch nicht 20 Jahre alt war, kann er nach österreichischem Recht nicht zum Tod verurteilt werden. 20 Jahre Kerker sind sein Los. Angekettet vegetiert er in einer winzigen, feuchten, dunklen Zelle dahin. Am 28. April 1918 stirbt er in Theresienstadt an Knochentuberkulose. Mit einem Löffel hat er folgende Worte in die Wand seiner Gefängniszelle gekratzt: »Unsere Geister schleichen durch Wien und raunen durch die Paläste und lassen die Herren erzittern.«2
Im heutigen Bosnien sind sieben Straßen nach dem Attentäter von Sarajevo benannt. Zum 100. Jahrestag des Attentats war geplant, in Belgrad zu seinen Ehren ein Denkmal, eine Statue auf der Festung Kalemegdan, zu errichten. Die Terroristen der einen sind die Helden der anderen.
Die Schüsse am 28. Juni 1914 lösen die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« aus. 15 Millionen Menschen werden dem Thronfolgerpaar in den Tod folgen. Unmittelbar nach dem Attentat deutet nichts auf die bevorstehende Apokalypse hin. In Baden bei Wien wird ein Konzert unterbrochen, der Kapellmeister berichtet vom Tod des Thronfolgers und seiner Gattin. Die Gäste sind keineswegs anhaltend irritiert, wie Stefan Zweig, der der Szene beiwohnt, in Die Welt von Gestern beschreibt: »Zwei Stunden später konnte man kein Zeichen wirklicher Trauer mehr bemerken. Die Leute plauderten und lachten, und abends spielte in den Lokalen wieder die Musik. Der Thronfolger war keineswegs beliebt gewesen.«3 Auch nicht bei seinem Onkel. »Eine höhere Macht hat jene Ordnung wieder hergestellt, die ich nicht zu erhalten vermochte«, soll der greise Kaiser das Attentat kommentiert und damit die Ehe seines Neffen mit der den Habsburgern nicht »ebenbürtigen« Gräfin Chotek gemeint haben. In jenen Sommertagen, die zwischen Krieg und Frieden entscheiden, geht es nicht um Beliebtheit oder verwandtschaftliche Zuneigung. Es geht um die Ehre, das Ansehen des Reiches.
Am 23. Juli überreicht der k. u. k. Gesandte in Belgrad das Ultimatum der Monarchie an Serbien. Es enthält Forderungen, die die serbische Regierung nicht ohne Gesichtsverlust annehmen kann. Der österreichische Außenminister hat seinen Gesandten bereits am 7. Juli wissen