Der Freund altdeutscher Eiche kam mit einer Tasse Tee ins Wohnzimmer zurück. »Warum fragen Sie nach der Selbsthilfegruppe?«
»Weil wir einen Mörder suchen. Einen, den Magdalena Liebig wahrscheinlich gekannt und sorglos ins Haus hereingelassen hat.«
»Warum sollte jemand aus dieser Gruppe Magdalena ermorden? Das sind alles kranke Menschen, die froh sind, dass sie sich gegenseitig haben.«
»Erzählen Sie mir etwas über die Krankheitsgeschichte von Frau Liebig. Ich habe von Epilepsie keine Ahnung.«
Der Arzt nickte bedächtig. »Epilepsie heißt auf Deutsch so viel wie Fallsucht oder Krampfleiden. Man unterscheidet zwischen verschiedenen Anfallsformen. Zum einen kennt man den partiellen Anfall, der auch fokaler oder Herdanfall genannt wird. Diese Anfallsform ist dadurch gekennzeichnet, dass es ein Zeichen für einen Beginn des Anfallsgeschehens in einer umschriebenen Region des Gehirns gibt. Ausschlaggebend für das Entstehen einer Epilepsie sind die Nervenzellen im Hirn. Die Nervenzellen haben die Aufgabe, Informationen weiterzugeben. Deswegen besitzen die Nervenzellen in ihrem Inneren eine elektrische Spannung gegenüber dem Zelläußeren. Diese elektrische Spannung wird durch eine Ansammlung elektrisch geladener Teilchen, sogenannter Ionen, hervorgerufen. Bei einem normalen Menschen kommt es bei einer Reizübertragung zu einer Entladung dieser Spannung. Es entsteht ein elektrischer Impuls, der über Zellausläufer an benachbarte Zellen oder über Nervenfasern an weiter entfernte Zellen weitergegeben wird. Auf diese Weise funktioniert unser Gehirn. Natürlich spielen dabei viele Millionen Nervenzellen eine Rolle, die in unseren Köpfen die Informationen verarbeiten. Bei einem Epilepsieerkrankten passiert nun aber Folgendes: Von einigen Nervenzellen werden anstatt der normalen, sehr kurzen Impulse längere Serien von Impulsen ausgesendet. Dadurch werden benachbarte Zellen übermäßig gereizt und ebenfalls zum Aussenden abnormer Impulsserien veranlasst. Auf diese Weise kann sich eine Kettenreaktion wie eine Explosion ausbreiten. Millionen von zusammenhängenden Nervenzellen werden erfasst und zu einem Kurzschluss gebracht. Man spricht dabei von einem gleichzeitigen abnormen Entladungsvorgang größerer Nervenzellverbände der Hirnrinde. Ein Erkrankter erleidet aber erst einen Anfall, wenn solche abnormen Entladungsvorgänge der Nervenzellen sich ausbreiten und gegenseitig verstärken. Haben Sie das soweit verstanden?«
Till nickte. »Ich glaube schon. Wenn man also die Region im Gehirn eingrenzen kann, wo diese abnormen Entladungsvorgänge stattfinden, dann spricht man von einem partiellen Anfall, richtig?«
»Korrekt. Ob die Anfälle partiell sind, lässt sich mittels einer EEG, einer Elektroenzephalografie anzeigen. Dazu bekommt der Patient eine Art Kappe mit Elektroden in definierten Abständen aufgesetzt, von denen die elektrische Oberflächenaktivität der Hirnrinde abgeleitet wird. Es gibt aber auch noch andere Methoden, um eine Diagnose zu stellen.«
»Magdalena Liebig litt unter solchen partiellen Anfällen?«
»Nein. Dann wäre die Behandlung einfacher gewesen. Magdalena wurde von sogenannten generalisierten Krampfanfällen heimgesucht. Bei diesen Anfällen ist immer die gesamte Hirnrinde von der elektrischen Anfallsaktivität betroffen. Man hat im Laufe der Zeit verschiedene Formen und Erscheinungen dieser generalisiert auftretenden Anfälle klassifiziert und den Anfallstypen bestimmte Namen zugeordnet. In Magdalenas Fall wurde eine juvenile myoklonische Epilepsie diagnostiziert, die auch unter dem Begriff Janz-Syndrom bekannt ist.«
Till hörte den Ausführungen des Doktors nicht nur neugierig zu, er machte sich auch eifrig Notizen. Die juvenile myoklonische Epilepsie ließ er sich buchstabieren, bevor er Dr. Breuer weitersprechen ließ.
»Diese myoklonischen Anfälle zeigen sich in plötzlichen, kurzen Muskelzuckungen der Schultern und Arme. Vom Patienten werden diese Zuckungen bewusst als elektrischer Schlag wahrgenommen. Magdalena litt unter den Anfällen seit ihrer frühesten Kindheit. Ab ihrem vierzehnten Lebensjahr wurden die Anfälle häufiger und heftiger. Zu allem Überfluss reagierte sie allergisch auf die am besten geeigneten Medikamente und es hat seine Zeit gedauert, bis die optimale Medikation für sie gefunden war. Ab ihrem zwanzigsten Lebensjahr traten zusätzlich tonisch-klonische Krämpfe auf. Dabei handelt es sich um eine krampfhaft gesteigerte Spannung der Muskulatur. Rhythmische Zuckungen beider Arme und Beine sind die Folge dieser Krämpfe. Einige Jahre später traten dann auch noch Absencen auf, wenn Magdalena von Anfällen betroffen war.«
»Absencen?«, fragte Till nach.
Dr. Breuer buchstabierte den Begriff, bevor er ihn erklärte. »Absencen sind Abwesenheitszustände mit Bewusstseinsverlust, die einige Sekunden andauern. Oft hat der Patient Erinnerungslücken, wenn er wieder zu sich kommt. Das war bei Magdalena häufig der Fall. Die tonisch-klonischen Anfälle treten im Laufe der Zeit bei fast allen Patienten auf, bei denen die juvenile myoklonische Epilepsie diagnostiziert wurde, die Absencen nur etwa bei einem Drittel der Erkrankten. Magdalena litt nicht nur unter allen Symptomen, die bei der Krankheit auftreten können, sie hatte zudem diese Unverträglichkeit einer Vielzahl von Medikamenten, die hierbei normalerweise zum Einsatz kommen. Daher litt sie gerade als Kind und in ihrer Jugend besonders unter der Krankheit. Erst in den letzten Jahren war es gelungen, ihre Anfälle mittels geeigneter Medikamente in den Griff zu bekommen. Und jetzt, wo sie ihr Leben vielleicht noch ein wenig hätte genießen können, wird sie umgebracht. Das ist eine Tragödie.«
Till überflog seine Gesprächsnotizen. Ganz oben stand sein Stichwort, das der Hauptgrund für seinen Besuch war. Selbsthilfegruppe!
»Ich benötige noch die Namen der Leute aus dieser Selbsthilfegruppe«, kam Till wieder auf den Anfang des Gespräches zurück.
Dr. Breuer nickte. »Richtig, Sie suchen ja einen Mörder und ich langweile Sie mit Krankheitsgeschichten. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wer alles zu dieser Gruppe gehört. Ich kannte ja nur Magdalena. Aber warten Sie einen Moment.« Dr. Breuer ging zu seinem Sideboard und zog eine Schublade auf. Er kramte darin herum, fand nicht, was er suchte, und öffnete die nächste Schublade. »Aha, hier habe ich sie also hingelegt«, triumphierte er und hielt eine Visitenkarte in der Hand, die er Till überreichte.
Dr. Margarete Münzberg, Fachärztin für Neurologie, Alle Kassen.
Till schaute den Arzt fragend an.
»Frau Dr. Münzberg ist eine Kollegin, die sich auf Epilepsie spezialisiert hat. Sie hat diese Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen. Die meisten Leute aus dieser Gruppe stammen aus ihrem Patientenkreis. Ihre Frage stellen Sie besser ihr. Aber wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf, dann erzählen Sie ihr nicht gleich, dass Sie in der Gruppe einen Mörder vermuten. Die gute Frau Dr. Münzberg behandelt ihre Patienten nämlich wie ihre eigenen Kinder.«
»Warum wurde Magdalena von Ihnen und nicht von ihr behandelt?«, fragte Till nach.
»Ich war der Hausarzt der Familie Liebig. Ich habe schon Magdalenas Großmutter Wilhelmine behandelt, Gott habe sie selig, und ihre Mutter Eva. Großmutter und Mutter bestanden darauf, dass ich auch Magdalena behandele. Natürlich musste ich in Magdalenas Fall Spezialisten hinzuziehen, aber ich war der Arzt ihres Vertrauens. Die Männer der Familie haben sich allerdings nie in meiner Praxis blicken lassen. Weder der alte Walter Arenz, noch dessen Sohn Peter oder Hermann Liebig. Fragen Sie mich aber nicht, woran das lag.«
»Woran lag es?«, fragte Till spitzbübisch und der alte Doktor lächelte.
»Manche Dinge werden bei Millionärsfamilien halt eigentümlich behandelt. Man hat seine Geheimnisse und ein Arzt weiß oft sehr viel.«
Till beließ es dabei, speicherte diese Information aber in seinem Gehirn ab. Dabei stellte er sich vor, wie seine Gehirnzellen Spannungen entluden. Kleine Blitze zuckten durch sein Gehirn, Dr. Breuer war nur für die Frauen der Familie zuständig. Warum? Bei Gespräch mit Hermann Liebig gespeicherte Information aus Nervenzelle entladen und nachfragen. Zur Sicherheit schrieb er es sich auch noch auf seinen Notizblock, seinen Nervenzellen in der Hirnrinde traute er nicht so richtig.
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