SCHWERE ZIELE (Extreme). Chris Ryan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chris Ryan
Издательство: Bookwire
Серия: Extreme
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958352032
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      Falcon blieb am Ende der Treppe abrupt stehen und riss Gardner aus seinem Tagtraum.

      »Stop«, sagte er. »Ich sehe etwas.«

      »Was?«, flüsterte Gardner.

      Keine Antwort.

      »Rafa?«

      Gardner ließ sich auf den Boden fallen und robbte zu Falcon hinüber. Vor ihnen öffnete sich die Gasse zu einem mit Schutt übersäten Platz. Ein paar eingestürzte Gebäude hatten die Freifläche künstlich erweitert. Das Gebiet war menschenleer. Wahrscheinlich gingen die Bewohner davon aus, dass auch die restlichen umgebenden Gebäude jeden Moment in sich zusammenfallen würden. Gardner musterte die Dächer und Fenster. Nichts bewegte sich, aber er kam nicht umhin, die Einschusslöcher zu bemerken, welche die Wände der meisten Häuser verzierten.

      Dreißig Meter entfernt, auf sieben Uhr, parkte ein bulliger, schwarzlackierter Van am Rand einer kurvigen Straße, die im Zickzack durch die Favela führte. Die Straße war jedoch kaum als solche zu bezeichnen, vielmehr handelte es sich um eine Ansammlung aus Schlamm, Geröll und knietiefen Pfützen.

      »Ein caveirão«, sagte Falcon. »Aus meiner Einheit.«

      Ein meterhoher Trümmerbrocken aus Beton, aus dem Bleirohre ragten, versperrte dem Big Skull den Weg. Auf dem Dach des Fahrzeugs war ein verbogener Geschützstand zu erkennen. Offenbar hatte jemand eine Granate hineingeworfen. Zwei Leichen lagen neben dem Wagen. Gardner erkannte an der Art, wie sie positioniert waren – auf dem Bauch liegend, die Hände auf den Rücken gebunden – dass man sie mit einer Kugel in den Kopf hingerichtet hatte.

      Gardner näherte sich den Leichen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Der Gestank war überwältigend. Wie ein Spanferkel, dass man durch Scheiße gezogen hatte. Er überprüfte die Namensschilder. ›SGT. EDILSON‹, ›SGT. CAMPOS‹. Als er bis auf acht Meter heran war, bemerkte er, dass den Leichen etwas fehlte.

      Die Köpfe.

      Er sah zwei Objekte ähnlich wie Rugby-Bälle, die man auf Metallpfosten gespießt hatte.

      Wenn einer davon Johns Kopf ist, werde ich mir das nie verzeihen, dachte er bei sich.

      Gardner blieb vor den abgetrennten Köpfen stehen. Man hatte ihnen die Augäpfel aus den Höhlen geschält und die Nasen, Ohren und Lippen abgetrennt. In den weit aufgerissenen Mündern steckten jeweils ein abgeschnittener Penis und ein Hodensack. Die Eier waren grünlich-braun verfärbt und mit ekelhaft glitzerndem roten Zeug verklebt. Fliegen surrten um sie herum. Maden wanden sich im Fleisch.

      Er kehrte zu den geköpften Leichen zurück und entdeckte ein Pistolenholster an einer von ihnen. Er ging in die Knie und löste eilig den Schutzriemen über der Waffe. Browning Hi-Power. Bingo. Er brauchte dringend eine Waffe, und das war seine Gelegenheit, sich eine unter den Nagel zu reißen.

      Die Browning Hi Power war eine klassische halbautomatische Handfeuerwaffe. Er entsicherte sie und ließ das Magazin herausschnappen, um zu sehen, ob sie geladen war. Die Browning war mit 9mm-Munition geladen, weitaus weniger durchschlagkräftig als 7.64x21mm oder .40 S&W-Patronen, mit denen man die Hi-Power ebenfalls laden konnte.

      Er schob das Magazin wieder in den Griff zurück, stand auf und steckte sich die Browning in den Bund seiner Hose. Falcon hatte seine Angst heruntergeschluckt und sich ebenfalls den Leichen genähert.

      An den Pfosten war ein hölzernes Schild angebracht worden.

      Falcon las die Worte auf dem Schild laut vor: »Falta de Deus.«

      »Schätze, das ist nicht Portugiesisch für Noch einen schönen Tag«, sagte Gardner leise.

      »Es bedeutet: Die Abwesenheit Gottes. Sie sagen, dass alle gottlos sind.«

      »Wer sagt das?«

      »Eine der Banden.«

      Falcon senkte den Kopf und bekreuzigte sich.

      Selbst die Taliban waren nicht so grausam gewesen, dachte Gardner bei sich.

      »Ihr Freund …«, begann Falcon.

      Gardner runzelte die Stirn. »Vielleicht haben sie ihn als Geißel genommen. Um Lösegeld zu erpressen. So läuft das hier doch, oder?«

      »Ja«, sagte Falcon, dem man ansah, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

      »Rafa, reißen Sie sich zusammen. Diese Gang – ist es möglich, dass sie John gefangen genommen haben?«

      »Wenn sie Bald haben, ist er wahrscheinlich bereits tot. Und wenn sie uns finden, werden sie auch uns töten.«

      »Nein, werden sie nicht, Kumpel. Nicht mit mir.«

      »Sie verstehen nicht, mit wem Sie es zu tun haben. Das ist keine gewöhnliche Gang.«

      Gardner fragte sich, wie Normalität an einem Ort wie diesen aussehen mochte. Wahrscheinlich so wie die kleinen Wichser, die den Officer geköpft hatten.

      »Erzählen Sie mir von dieser Gang«, sagte er.

      »Das war das Werk von Big Teeths Leuten.«

      »Wer soll das sein?«

      »Luis Oliveira. Die Leute nennen ihn ›Big Teeth‹. Er selbst lässt sich nicht in der Favela blicken, aber er ist der Kopf der größten Gang von Barbosa. Den Messengers of God – die Boten Gottes. Sie kontrollieren die Waffen- und Drogengeschäfte hier. Sein zweiter Mann ist ein Typ namens Roulette, und ich verwette Haus und Hof, dass das hier das Werk von Roulettes Killerkommando ist.«

      Gardner musterte die nördliche Richtung. Schien ruhig zu sein. Aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen. »Wir sollten von hier verschwinden, Rafa. Sonst laufen wir denen noch in die Arme und werden zu Gulasch verarbeitet.«

      Er zog an Falcons Ärmel. Die Augen seines neuen BOPE-Partners waren auf einem Punkt hinter ihm gerichtet.

      »Zu spät«, sagte Falcon. »Sie haben uns bereits entdeckt.«

      Kapitel 15

      10:18 Uhr

      Weiss passierte unbemerkt die Polizeikontrollen. Vier Streifenwagen parkten zusammengedrängt am Straßenrand. Ein Dutzend dickbäuchiger Cops waren damit beschäftigt, sich am Kinn zu kratzen und mit den Füßen im Kies zu scharren. Ohne Unterstützung der BOPE traute sich keiner, die Favela zu betreten. Um sich die Zeit zu vertreiben, stellten sie den Leuten Fragen, die Barbosa betraten oder verließen. Die meisten dieser Leute waren weiße Jugendliche aus der Mittelschicht, die sich mit Gras eindecken wollten. Weiss hingegen beachtete niemand. Mit seiner abgewetzten Baseball-Kappe der Arizona Cardinals und dem Fußballshirt voller alter Blutflecken unter seinem Mantel sah er genau so aus wie jemand, der nach Barbosa gehörte.

      Im Prinzip funktionierte so eine Favela wie ein Gefängnis. Hauptaugenmerk galt denen, die hinaus wollten, und weniger denen, die hinein gingen.

      Bereits nach wenigen hundert Metern in der Favela kam es Weiss so vor, als hätte es ihn in eine andere Welt verschlagen.

      Abgerissene Rohre ragten aus jedem der Häuser heraus und pumpten Scheiße in große Pfützen auf die Straße. Einkaufstüten und Plastikflaschen wehten durch die Gassen wie Tumbleweed in einem Western. Fünfundzwanzig Meter vor ihm stocherte ein gebrechlich wirkender Mann in einem Haufen Müll herum und angelte verbogene Metallstücke hervor, die er in seinem Einkaufswagen verstaute. Ausgeschlachtete Motoren säumten die Straßen, und über ihm führte ein Gewirr aus Telefonkabeln und Stromleitungen in alle Richtungen, wie chinesische Laternen.

      Hundert Meter weiter sah Weiss drei Teenager auf Bananenkisten sitzen. Zwei von ihnen waren nicht älter als zwölf oder dreizehn. Ausgemergelte Gestalten. Der eine von ihnen trug ein zu großes Lakers-Shirt, der andere hatte seine Haare zu Cornrows geflochten und bearbeitete seine Kiste mit einem Messer.

      Der Älteste von ihnen schien der Anführer zu sein. Er war etwa achtzehn. An den Füßen trug er protzige makellose schwarz-weiße Converse zur Schau, und an seinem