PLÖTZLICH ZAUBERER. Scott Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Scott Meyer
Издательство: Bookwire
Серия: Magic 2.0
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351554
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Walter eilte zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite, doch im gleichen Moment flog auch schon die Vordertür auf und ihr jüngster Sohn Martin platzte ins Haus. Er warf die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. In einer Hand hielt er eine Plastiktüte.

      »Sohn …«, war alles, was Walter sagen konnte, bevor Martin sich umdrehte und ihn so fest drückte, dass er kaum noch Luft bekam.

      »Dad! Mom! Ihr müsst zwei Dinge wissen«, sagte Martin. Er entließ seinen Vater aus der Schraubstockumarmung und machte bei seiner Mutter weiter. Dann hielt er kurz inne. Es irritierte ihn, was sie in der Hand hielt. Schließlich umarmte er sie sanfter, als er es bei seinem Vater getan hatte. »Denkt daran, dass ich euch liebe und dass es nicht wahr ist.«

      Er gab seine Mutter frei und ging dann zu dem Flur, der zu seinem alten Schlafzimmer führte. »Es ist nicht wahr, dass du uns liebst?«, fragte seine Mutter mit leiser, verwirrter Stimme.

      »Was? Nein! Ich liebe euch. Etwas anderes entspricht nicht der Wahrheit.«

      »Was ist denn nicht wahr?«, fragte sein Vater. Er musste schreien, weil die Sirenen jetzt so laut waren.

      Martin blickte zum Fenster, das nach vorne raus zeigte. Die Farben der Polizeilichter sickerten durch den zugezogenen Vorhang. »Ihr werdet es schon noch früh genug wissen.« Er sah seine Eltern ein letztes Mal an. »Ich bin in meinem Zimmer.« Damit rannte er in sein Jugendzimmer, in dem er früher geschlafen hatte, und schloss die Tür hinter sich.

      Martin fühlte sich schlecht, weil er seine Eltern mit in die ganze Sache hineingezogen hatte, aber er wusste, dass ihnen nichts passieren würde. Es gab schließlich keine Hinweise darauf, dass sie in etwas Illegales verstrickt waren. Er hatte alles sicher von seinem alten Rechner gelöscht und auf dem neuen Computer hatte er noch nichts gemacht. Wenn es darauf ankam, konnten sich seine Eltern einen Anwalt leisten, aber es gab immer noch einen Weg, dass es gar nicht erst dazu kommen musste. Er brauchte einfach nur ein bisschen Zeit zum Nachdenken.

      Martin spähte aus dem Fenster seines alten Schlafzimmers, von dem aus er auf den Vorgarten schauen konnte. Es war ihm klar, dass er hier auch keine Zeit zum Nachdenken finden würde. Die zwei Zivilfahrzeuge und drei Polizeiwagen standen bereits mit blinkenden Lichtern auf der Straße. Der Agent, der mit Martins Computer herumgespielt hatte, erspähte ihn durch das Fenster und lächelte. Martin riss die Vorhänge hastig wieder zu. Sein Blick schoss im Raum umher, dann ging er zum Schrank. Jede Sekunde würde er hören müssen, wie die Agents an die Vordertür hämmerten, und dann hätte er nur noch ein paar Momente in Freiheit. Er sah das, wonach er gesucht hatte, schnappte es sich und klemmte es sich zusammen mit seiner zusammengeknüllten Jacke unter den Arm.

      Jetzt geht's los, dachte er. Bald habe ich viel Zeit zum Nachdenken, so viel, wie ich brauche.

      So schnell, wie man einen Verband abreißen oder in einen kalten Swimmingpool springen würde, holte Martin sein Handy heraus, öffnete die App und drückte den Knopf, auf dem Flucht stand.

      Kapitel 8

      Weit entfernt am Horizont warf eine Wolkenbank Schatten auf ein Stück Land, von dem Martin gar nicht so recht glauben konnte, dass es tatsächlich England war. Dort, wo er stand, war der Himmel hellblau. Nur ein paar Wolken waren zu sehen, als ob sie dem Himmel etwas Textur verleihen wollten. Er hörte das tosende Meer als entferntes dumpfes Grollen. Entfernt deshalb, weil das Meer, obwohl er nur etwa dreißig Meter von der Küste entfernt stand, erst weit unter ihm, am Fuße einer schwindelerregenden, kreideweißen Klippe, auf den Sand brandete.

      Hier oben wehte eine stetige Brise durch die wilden Grasbüschel und zwang die Seevögel dazu, sich Zentimeter für Zentimeter vorzuarbeiten. Auf einer Seite war der Horizont nicht weiter als Wolken und Meer. Auf der anderen Seite bestand er aus sanft geschwungenen Hügeln und Bäumen. Er hätte das alles sehr beruhigend gefunden, wenn er nicht gewusst hätte, dass er völlig am Arsch war.

      Genau dort, wo er sich hin materialisiert hatte, saß Martin auf dem Boden und wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Dabei wechselten sich Panik, Tränen und Scham ab. Abwechselnd rollten sie in willkürlicher Reihenfolge in Wellen durch sein Gehirn.

      Vor allem fühlte er sich dumm. Schrecklich dumm. Alles, was er hätte tun müssen, war sich bedeckt zu halten. Das war der ganze Plan gewesen. Drei Worte: Sich bedeckt halten. So einfach, aber offensichtlich doch zu kompliziert für ihn.

      Nach einer Weile übernahmen seine Gedanken wieder die Herrschaft über seine Gefühle. Er steckte in der Klemme. Der erste Punkt der Tagesordnung bestand darin, herauszufinden, wie er das wieder in Ordnung bringen konnte.

      Er zählte innerlich seine Probleme auf.

      Kein Job.

      Kein Bargeld.

      Das Bankkonto hatte man mit ziemlicher Sicherheit eingefroren.

      Von der Polizei gesucht.

      Die Eltern wussten von den ersten vier Dingen auf dieser Liste.

      Kein Essen.

      Keine Zuflucht.

      Verbannt ins mittelalterliche England.

      Anhand dieser Auflistung versuchte er nun, eine Prioritätenliste der Probleme zu erstellen, und zwar vom Geringsten bis zum Schwerwiegendsten. Und dann verbrachte er erneut eine unbestimmte Zeit damit, Panik, Scham und Kummer zu fühlen.

      Es brachte wirklich nicht besonders viel, darüber nachzudenken, welches seiner Probleme das Schlimmste war. Stattdessen versuchte er, herauszufinden, welches das Dringlichste war. Das stellte einiges klar.

      Er brauchte Essen und eine Zuflucht! All die anderen Probleme waren nur ein Teil eines großen Haufens von Problemen. Gegen diesen waren das Essen und die Zuflucht ein Klacks, aber er wusste trotzdem noch nicht, wie er es anstellen sollte.

      Sein erster Impuls war es, in sein Apartment zurückzukehren, und zwar, bevor er diese ganzen dummen Entscheidungen getroffen hatte. Er glaubte aber nicht, dass das funktionieren würde. Was würde er sich selbst sagen? »Sei vorsichtig, oder du wirst alles vermasseln?« Sein Ich aus der Vergangenheit wusste das bereits. Tatsächlich erinnerte er sich daran, fast genau diese Worte gedacht zu haben. Außerdem, wenn er zurückreisen wollte, um sich selbst zu warnen, hätte er das dann nicht bereits getan? Als er in der Zeit zurückgereist war, um seinem Vergangenheits-Ich zu sagen, dass es in der Zeit zurückreisen sollte, um Poker zu spielen, war seine erste Erfahrung gewesen, mitzuerleben, wie sich sein Zukunfts-Ich materialisiert hatte. Der Gedanke, in die Vergangenheit zu reisen, war ihm erst viel später gekommen. Wenn er sich also an irgendeinem Punkt in der Zukunft selbst warnen würde, wäre er zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem heutigen Tag bereits von sich selbst gewarnt worden.

      Martin ärgerte sich über sich selbst. Darüber, dass er sich nicht davon abgehalten hatte, die dummen Dinge zu tun, die er getan hatte. Er wusste, das war nicht rational, aber er befürchtete so langsam, dass rationales Denken auch nicht wirklich seine Stärke war.

      Aus welchem Grund auch immer, es war keine Option, sich selbst zu warnen. Er würde einen anderen Weg finden müssen, diesen Schlamassel, den er in der Zukunft hinterlassen hatte, zu bereinigen. Da er momentan allerdings keine Idee hatte, wie das funktionieren könnte, musste er erst einmal hier in der Vergangenheit den rechten Augenblick abpassen. Dadurch hoben sich die Probleme bezüglich des Essens und der Zuflucht eindeutig vom Rest ab, und aus irgendeinem Grund fühlte sich Martin dadurch besser. Außerdem musste er sich nicht länger darüber sorgen, dass er das Raum-Zeit-Kontinuum durcheinanderbrachte, denn wenn er es tun würde, dann hatte er es bereits getan, lange bevor er überhaupt geboren worden war.

      Okay, dachte er, ich weiß, was meine Probleme sind. Aber was sind meine Vorteile?

      Er hatte seine Kleidung. Das war kein vielversprechender Start, aber es war, wie es war. Seine Schuhe waren immer noch ohne Schnürsenkel, darum nahm er die Schnürsenkel aus der Asservatentüte, die Agent Murphy ihm gegeben hatte, als er nach seinem Handy gefragt hatte. Während er die Schuhe wieder schnürte, ging er im Kopf die Liste weiter durch. Er hatte seine Kleidung. Er hatte eine Jacke. Er hatte sein Handy.